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24.08.2011
11:30

Bildung - der letzte Hort der Ideologie

Schulstadträtin blockiert Schulentwicklung

Bis gestern abend wusste ich nicht, was Ideologie ist. So lautete mein Tweet heute morgen, als ich immer noch Kopfschmerzen hatte vom Auftritt einer Schulstadträtin aus Berlin. So etwas bockbeinig Ideologisches habe ich noch nicht erlebt. Ich muss das erläutern, weil man da viel über Schule und Psychologie lernen kann.

Höch und Greenwich wollen zusammen gehen

In Reinickendorf, einem Berliner Bezirk, gibt es zwei Schulen, die sich zu einer Gemeinschaftsschule zusammentun wollen. Die Grundschule namens Hannah Höch-Schule ist eine sehr gute Schule, die seit Jahren gute Erfahrungen mit Lernbüros und heterogenen Lerngruppen macht. Die weiterführende Schule, Greenwich-Oberschule, wurde vor zehn Jahren gegründet, um irgendwann mit der Höch zu verschmelzen. Die Höch wie die Greenwich machen Schule in komplexer sozialer Lage des Märkischen Viertels, mehr als die Hälfte der Kinder kommen aus Migrationsfamilien bzw. Hilfeempfängern. Die Hannah-Höch-Schule verlassen nach sechs Jahren über 50 Prozent gymnasialempfohlener Kinder – und sie dann gehen weg in Gymnasien und damit in andere Sozialräume. Derweil bekommt die Greenwich-Schule nur die schwächeren Kinder aus der Höch und die kombiniert sie mit Langsamlernern, die ihr aus anderen Schulen zugewiesen werden. Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung würde dazu sagen: Es wird künstlich ein negatives Lernmilieu konstruiert, eine Verliererschule, in der sich die Kinder gegenseitig runter ziehen.

Alle wollen die Gemeinschaftsschule – nur einer nicht

Die beiden Schulen wollen diesen Teufelskreis durchbrechen, sie wollen zu einer Schule fusionieren, die Kindern beim Übergang KEINE Unterbrechung und KEINEN Schulwechsel mehr aufnötigt, sondern perspektivisch sogar das Abitur am Standort ermöglicht. Die Eltern wollen dieses Konzept, die Lehrer wollen es auch, vor Ort gibt es einen erfolgreichen Industriebetrieb, der die Schulen unterstützt, das Land Berlin gibt obendrein die Möglichkeit, die Schule umzuwandeln. Trotzdem ist das Zusammengehen der beiden Schulen verboten. Es wird verhindert durch eine Frau, die dummerweise die Schulstadträtin und damit die Schulträgerin ist.

"Meiner Überzeugung nach geht das nicht"

Diese Frau, Katrin Schultze-Berndt (CDU), war nun eingeladen in die Höch-Schule, um mit den Schulen ins Gespräch zu kommen – und es wurde ein Fest des Kant'schen Diktums vom selbstverschuldeten Nicht-Ausgang aus der Unmündigkeit. Frau Schultze-Berndt begründete ihre Ablehnung ausschließlich durch ihre ganz persönliche Überzeugung, dass das Lernen in integrierten Schulen nicht funktionieren kann. Grundsätzlich nicht, glaubt sie. Sie schickte ihrer Überzeugung voraus, dass das Land, regiert von Rot-Rot, das gegliederte Schulwesen zerschlagen wolle – und sie werde das in Reinickendorf qua ihres Amtes nicht zulassen.

Auch Hinweise, dass das gemischte Lernen in der Höch-Schule gut funktioniert und dass es nicht um ein abstraktes Schulsystem, sondern konkret um zwei Schulen vor Ort und die Entwicklung der Kinder dort gehe, konnten Katrin Schultze-Berndt nicht aus der Ruhe bringen. Sie zitierte eine Studie von Helmut Fend, die besagt, dass die kognitiven Leistungen, die Gesamtschüler erbringen, auf Dauer gesehen, sich abhängig vom Sozialstatus NICHT annähern. Mit anderen Worten: Bauernsohn bleibt irgendwie intellektuell immer Bauernsohn, Arzttochter macht stets irgendwie Karriere – das bleibt so, obwohl sie beide auf einer Gesamtschule waren.

Das kann zwar kein Argument gegen den Aufbau einer funktionierenden Schule sein, die auf den Schlag die soziale Mischung der Schule vor Ort verbessert. Aber darauf reagierte Schultze-Berndt mit der stereotypen Wiederholung, dass das Lernen in heterogenen Gruppen eben nicht klappen kann – ihrer Ansicht nach.

„Wir fühlen uns nicht ernst genommen“

Die Bürger verstanden Schultze-Berndt nicht. Sie sagten, „wir fühlen uns nicht ernst genommen“, sie sagten, „vertrauen sie doch uns, dass wir das wollen und können“, sie sagten, „sie haben gar nicht die Kompetenz uns das zu verbieten“, es sei rechtlich möglich, also solle sie sich dem Willen der Menschen nicht in den Weg stellen. Der anwesende Manager sagte, er stehe grundsätzlich der Union näher, aber er verstehe nicht, warum jemand seiner Parteipräferenz etwas gutes verhindern will, nur weil er es verhindern kann. „Wieso machen wir das nicht, wenn es erlaubt ist, wenn es gut ist und wenn alle es wollen? Ich jedenfalls werde in Reinickendorf nicht CDU wählen, und ich kann das auch niemandem empfehlen.“

Nicht mehr runter von der Palme

Es war vollkommen sinnlos Argumente auszutauschen. Die Stadträtin wollte nicht mehr runter von der Palme, auf die sie nunmal geklettert ist. Und die anderen waren so wütend, dass sie immerfort mit Kokosnüssen nach Schultze-Berndt warfen. Aber sie konnten nicht gar mehr treffen, weil sie inzwischen ganz weit oben auf der Palme sitzt, da kommt man nicht mehr ran.

Ideologie ist, das habe ich gelernt, wenn jemand mit seinem Glauben und seiner Überzeugung gegen die Wirklichkeit regiert – und dies offensichtlich auch deswegen tut, weil er damit andere ärgern kann. Eine solche Ideologie gibt es heute fast an keiner Stelle mehr - außer in der Bildung.

Das ist ein großes Problem. Denn wir müssen viele Schulen in Deutschland entwickeln, wir haben nicht mehr genug Kinder, um sie auf drei Schulformen aufzuteilen und im übrigen macht das Lernen in gemischten Gruppen mehr Spaß. Es ist pädagogisch interessanter und auch efolgreicher wie viele viele Schulsysteme auf der Welt zeigen. Aber wenn Schulreform von unten durch Ideologie vor Ort, gewissermaßen mit dem geistigen Baseballschläger, verhindert wird, dann stehen wir vor einer großen Herausforderung.

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05.08.2010
23:21

Schulreform von unten - oder gar nicht

Kommentar im Deutschlandfunk 24. Juli

Hamburg hat schulpolitische Geschichte geschrieben. Mitte Juli lehnten es 276.304 Bürgerinnen und Bürger in der Hansestadt ab, die Grundschule um zwei Jahre zu verlängern und pädagogisch aufzuwerten. 

Es lässt sich trefflich darüber lamentieren, ob das Volk falsch oder parteilich oder irgendwie ungerecht abgestimmt habe. Oder ob es überhaupt DAS Volk war, wenn vor allem die reichen und gebildeten Hamburger Stadtteile die schwarz-grüne Schulreform ablehnten.

Fakt ist: Eine deutliche Mehrheit lehnte die sechsjährige Primarschule per Plebiszit ab. Das bedeutet: Der Slogan "länger gemeinsam lernen" ist verbrannt.

Kein Schulreformer in der Republik sollte so dumm sein, die Formel einfach weiter zu verwenden - etwa mit dem arroganten Hinweis, die Hamburger Schnöseleltern hätten halt nicht verstanden, was auf dem Spiel steht. 

Dennoch ist die schulpolitische Lage seit Sonntagabend 22 Uhr, als der 56-Prozentsieg der Initiative "Wir wollen lernen" amtlich bestätigt wurde, nicht leichter geworden. Ja, das Volk hat Nein zu einer Demokratisierung der Grundschule gesagt. Ja, es stimmt aber auch, dass es eben kein ideologisches Konstrukt war, was der Erste Hamburger Bürgermeister Ole von Beust und seine eifrige Schulsenatorin auf den Weg bringen wollten. Sondern dass es dafür handfeste empirische Gründe gab: Fast in keiner deutschen Stadt sind die Schulen so schlecht wie in Hamburg etwa die Hauptschulen. Acht von zehn Schülern dort können kaum lesen. Man nennt diese Gebilde in Forscherkreisen nicht umsonst Schulen der Hoffnungslosigkeit oder gern auch Unterschichtsfabriken.

prepare to prison

Wie bitte soll die erste und am meisten globalisierte Stadt Deutschlands, die Hafenstadt Hamburg, Wohlstand und Bürgerrechte sichern, wenn 25 bis 30 Prozent ihrer Jugendlichen weder berufs- noch lesefähig sind? Und in Essen, Dortmund, Frankfurt, in Berlin und Bremen sowieso, aber auch in Stuttgart und München ist es doch nicht anders: An der Isar nennt man Hauptschulen in bestimmten Stadtbezirken mittlerweile "prepare to prison" - denn sie haben ja objektiv die soziale Zusammensetzung von Justizvollzuganstalten.

Die Kürze der hiesigen Grundschule steht damit in ziemlich engem Zusammenhang. Man muss da gar keine Pisastudien lesen, wo klar bewiesen wird, dass die Auslese zum Gymnasium nicht nach Leistung, sondern nach sozialer Herkunft erfolgt. Man muss nur Unterschichtseltern fragen, wie chancenlos ihre Kinder nach vier Jahren sind. Oder gern auch Mittelschichtsfamilien, wie sehr ihnen der enorme Druck auf die Nerven geht, der heute bereits auf Drittklässler ausgeübt wird. Die Flucht aus dem staatlichen Schulsystem ist vor allem in der Grundschule ein nicht zu leugnender Fakt.

Grausame Zwickmühle

Hamburgs Eltern und Volksbegehrer haben die Republik also in eine grausame Zwickmühle manövriert.

Auf der einen Seite werden bereits die Messer gewetzt, um Volksentscheide im Saarland und Nordrhein-Westfalen vorzubereiten. Motto: Finger weg von den Schulen! Im Saarland soll es bald eine fünfjährige Grundschule geben; in NRW sind ein Drittel neuer Gemeinschaftsschulen geplant, die ihre Schüler bis zur sechsten Klassen gemeinsam unterrichten dürfen.

Auf der anderen Seite greifen die Demografie und die Wirtschaft das bestehende Schulsystem viel schärfer an als linke Schulreformer: In den großen Bundesländern, den Big Five, wo 75 Prozent der deutschen Schüler zur Schule gehen, steht ein beispielloses Schulsterben bevor.

Hunderte, ja Tausende Hauptschulen werden in Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen eingehen -  wegen Schülermangels.

Gleichzeitig ruft die Industrie immer lauter nach immer radikaleren Reformen: Von der Einschulung mit vier Jahren bis hin zur Verschmelzung von Haupt- und Realschulen ist da alles im Programm, was man sich denken kann.

Mega-Unternehmen Schule vor dem Kollaps


Was also tun? Schulfrieden gewähren - und alle Verbesserungen einstellen? Oder ein, wie nicht wenige fordern, ein bundeseinheitliches Schulsystem schaffen? Beide Forderungen sind nachvollziehbar -- und doch Kokolores. Fast 400.000 Lehrer gehen bald in den Ruhestand. Wer glaubt, er könne die Hälfte des Mega-Unternehmens "Deutsche Schule" veränderungslos ins 21. Jahrhundert führen, der ist genauso realitätsblind wie derjenige, der meint, er könne dem alten Föderalismus sein Herzstück herausreißen - die Kulturhoheit. 

Nein, die Schulreform ist tot - es lebe die Schulreform. Nur, dass sie nicht mehr von oben betrieben wird, als flächendeckende Zwangsbeglückung. Die Schulreform "post Hamburg-Plebiszit" ist die lokale. Wo kopfschüttelnde Eltern plötzlich zu engagierten Helfern werden, wo Bürgermeister und Unternehmer gemeinsam für eine Schule von morgen arbeiten.

Das Schöne an dieser Regionalschule ist übrigens, dass sie ungeahnte Koalitionen hat. Da streiten grüne Rebbelnbürgermeister einträchtig mit CSU-Stadräten, da kämpft die "Montagsstiftung" mit ihrem regionalen Schulentwicklungsprogramm Seit an Seit mit Bundesbildungsminister Annette Schavan (CDU), die ein Projekt "Lernen vor Ort" mit Millionenbeträgen stützt.

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08.02.2010
12:36

Studienrat kennt Schulgeschichte nicht

Pisa lesen - und nicht verstehen (wollen)

Am Freitag wurde bei den Grundschulgesprächen in Hamburg vereinbart, wissenschaftliche Untersuchungen zu Rate zu ziehen. So will man Beweise für die vier- oder die sechsjährige Grundschule hervorzaubern.

Der deutsche Philologenverband hat nun das stärkste Argument aus dem Hut gezogen: Die sechsjährige Grundschule erhöht die soziale Selektivität von Schule. Als Beweis führt Philologenchef Hans-Peter Meidinger das Land Brandenburg an. 

Dort sei die sechsjährige Grundschule eingeführt worden - und, schwups, sofort sei das Land ans Ende der Gerechtigkeitstabelle gerutscht.

Eine putzige Argumentation, die der oberste Studienrat der Nation da ablässt - aus vielen Gründen.

Zunächst das Argument des Hans-Peter Meidinger im O-Ton:

"Ein Blick auf das einzige Bundesland, das in diesem Zeitraum eine verpflichtende sechsjährige Grundschule eingeführt hatte, Brandenburg, fördert Erstaunliches zutage. Nicht nur, dass sich in Brandenburg der Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Bildungserfolg (Steigung des sozialen Gradienten) im Berichtszeitraum 'signifikant' erhöht hat, auch in der Lesekompetenz konnte eine 'tendenzielle Zunahme der sozialen Unterschiede' festgestellt werden." 

Pisaversteher sagt dazu dreierlei:

1) Ist Brandenburg allenfalls ein Superargument FÜR die sechsjährige Grundschule. Denn die Zuwächse beim Gymnasialbesuch sind nirgends so stark wie in Brandenburg. Das heißt, die sechsjährige Grundschule macht also einen Superjob.

2) Die sechsjährige Grundschule für den schlechten Sozialwert im Jahr 2006 verantwortlich zu machen, ist weder intelligent noch logisch. Denn im Jahr 2000 hatte Brandenburg einen Super-Gerechtigkeitswert - und auch damals gab es schon die sechsjährige Grundschule. Wieso sollte also die sechsjährige Grundschule 2006 plötzlich schuld sein, dass der Gerechtigkeitsfaktor absinkt?

(Hintergrund: Bei Pisa 2000 war die Chance eines Akademikerkindes in Brandenburg aufs Gymnasium DOPPELT SO HOCH wie die eines Arbeiterkindes. 2006 ist der Wert fast 5x so hoch. Beide Male übrigens bei gleichen Leistungen! >>> Pisa 2006)

3) ... zeigt Meidinger im Grunde nur, wie schlecht das Gymnasium ist - und besonders dessen Lehrer und Verbandsvertreter. Denn in Brandenburg gab es nur 2x in der Geschichte eine vierjährige Grundschule. 1919 - und 1990 für eine logische Sekunde. Denn in Brandenburg wurde DIREKT NACH DER WENDE die sechsjährige Grundschule eingeführt; vorher gab es die POS, die von Klasse eins bis nach oben wuchs. Mit anderen Worten: Entweder schwindelt Mister Gymnasium die Menschen an, wenn er behaupptet, dass Brandenburg "das einzige Bundesland ist, das in diesem Zeitraum eine verpflichtende sechsjährige Grundschule eingeführt hatte". Oder er hat einfache keine Ahnung von Geschichte. In beiden Fällen ist es oberpeinlich. 

Für was argumentiert Meidinger eigentlich?

Für die Abschaffung des Gymnasiums!

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03.02.2010
19:59

Gebrauchsanweisung

Vier oder sechs Jahre Grundschule?

Mit dem Hamburger Anwalt Walter Scheuerl Entrecote im Cafe Paris zu essen, ist ein großes Vergnügen. Aufgeräumt berichtet der fröhliche Mann von seiner Arbeit und seinem Leben. Allzu gerne würde man mit ihm vielleicht mal einen Wanderweg in den Alpen gehen oder mit seiner Seglergruppe ein Törn machen (oder wie das heißt).

Allerdings ist es anders, wenn der freundliche Herr als Sprecher von „Wir wollen lernen“ auftritt, einer Hamburger Bürgerini, welche die Einführung der sechsjährigen Grundschule verhindern will. Da betreibt Herr Scheuerl eine Politik der Falschinformation und Spaltung der Gesellschaft.

Sie glauben es nicht? Gut, dann hier eine kleine Gebrauchsanweisung für den – hoffentlich! - bevorstehenden Volksentscheid in Hamburg über die sechsjährige Grundschule.

1. Was soll diese sechsjährige Grundschule?

Bei dem großen Schulstreit, der im Moment in Hamburg ausgefochten wird, geht es um mehr als eine bloße Verlängerung der Grundschule von vier auf sechs Jahre. Die Idee ist, weniger Kinder zurückzulassen. Und das hat Hamburg bitter nötig – besitzt es doch neben Berlin, Bremen und dem Saarland und noch weit hinter Hessen und NRW die schlechtesten deutschen Schulen. Die Rate an Bildungsverlierern ist in Hamburg besonders hoch, die Zahl der bereits umgekippten Hauptschulen war zuletzt ebenfalls unzumutbar hoch.

Ein Gegenmittel: Die sechsjährige Grundschule, also die Verschiebung der Auslese um zwei Jahre soll im Verein mit einer pädagogischen Aufwertung der Schulen und der Vereinfachung der Schulstruktur auf zwei Säulen die hohen Risikoschülerzahlen reduzieren. Das kann mit diesen Maßnahmen gelingen – wie die Beispiele einer Reihe von Bundesländern zeigen, die mit der Einführung von kooperativen Schulen die Zahl der Bildungsverlierer deutlich drücken konnten. (Siehe Pisa 2006, nationaler Vergleichsbericht)

Mit der Verlängerung der Grundschulen stehen gleichzeitig zwei völlig unterschiedliche Lernkulturen zur Debatte: Hier das auf frühe Auslese zielende gegliederte Schulwesen. Dort eine auf Förderung jedes einzelnen indes bedachte Kultur des integrativen Lernens.

Modell 1 steht für die Schule des 19. Jahrhunderts, die den Sortierauftrag des Staates nach vermeintlich objektiven Begabungen als oberste Maxime kennt.

Modell 2 steht für eine Schule des 21. Jahrhunderts, die das einzelne Kind in den Mittelpunkt des Lernens rückt. Und die pädagogische Armut der Regelschulen bereichert.

2. Erreicht die 6jährige Grundschule ihre Ziele?

Dafür gibt es naturgemäß keine Garantie. Wissenschaftliche Untersuchungen können nur im nachhinein zeigen, ob es gelingen wird, die Schulen der Hansestadt besser, gerechter und moderner zu machen. Ein Selbstläufer wird das nicht, so viel ist klar. Es bedarf einer deutlichen Verbesserung der Lernkultur.

Allerdings gibt es eine Fülle von Studien, die das Modell grundsätzlich für positiv erachten. Die wichtigste hat der Erziehungswissenschaftler Rainer Lehmann vorgelegt. Lehmann verglich die Lernleistungen der fünften und sechsten Klassen der Berliner Grundschule mit den selben Klassenstufen des Berliner (grundständigen) Gymnasiums, die so genannte Element-Studie. In Berlin können Grundschüler prinzipiell vier oder sechs Jahre in die Grundschule gehen.

Das Ergebnis Lehmanns: Die Lernzuwächse an der Grundschule sind im Durchschnitt besser als am Gymnasium. Das ist insofern bemerkenswert, da die Berliner grundständigen Gymnasien eine kleine, bevorzugte Schicht von nur sieben Prozent des Jahrgangs unterrichten – und dennoch keine besseren Gesamtzuwächse erzielen konnten als die Masse der 93 Prozent der Fünft- und Sechstklässler an den Grundschulen.

Zum Vergleich: Das wäre gerade so, als würde der FC Bayern mit einer kleinen Schar von Elitespielern, versorgt mit mehr Geld, teureren Trainern und dem viel anspruchsvolleren Programm schlechter abschneiden als die in der gleichen Liga antretenden Kneipen- und Freizeitmannschaften.

Lehmanns Studie hat zu vielen Diskussionen geführt und wird gern als Gegenbeleg aufgeführt, da Lehmann in einem gezielt politisch gehaltenen Interview seine Ergebnisse in Der Zeit ein bisschen schlicht darstellte. Die Zeit entschuldigte sich kleinlaut. Und der deutsche Pisa-Papst und Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Jürgen Baumert überprüfte Lehmanns Daten zur Sicherheit. Baumerts Ergebnis setzte ein dickes Fragezeichen hinter die pädagogische Qualität des deutschen Gymnasiums:

In keinem Leistungsbereich sind Förderwirkungen des grundständigen Gymnasiums nachweisbar“, analysiert der beste deutsche Schulforscher. Und resümiert: „Bewertet man die Befunde insgesamt, so sind sie zunächst ein Kompliment für die [sechsjährige, d. Red.] Grundschule. Die Entwicklungskurven von Spitzenschülern verlaufen in der Grundschule und in der Unterstufe des grundständigen Gymnasiums parallel, und zwar nicht nur im Lesen, sondern … auch in der unterrichtsabhängigen Domäne Mathematik. Für die grundständigen Gymnasien sind die Befunde ein Grund zur Nachdenklichkeit. Generell ist fraglich, ob die Gymnasien die Förderung der Lesekompetenz als akademische Aufgabe aller Fächer bislang überhaupt entdeckt haben.“

3. Gibt es einen guten Kompromiss?

Walter Scheuerl schlägt vor, nur einen Teil der Grundschulen auf eine sechsjährige Laufzeit umzustellen. Dann ließe sich „im Wettbewerb“ entscheiden, welche Schule die bessere sei. Eine teilweise Einführung der Grundschule wäre, offen gesagt, ein ganz schlechter Kompromiss – und man sollte es dann lieber ganz bleiben lassen. Auch hier kann Hamburg von Berlin lernen, das ja eine parallele Struktur ermöglicht: Es ist verheerend für die pädagogische Atmosphäre und die Praxis der Grundschule, dass sich Eltern und Kinder stets über vier oder sechs Jahre entzweien. Der Schulkampf wandert gleichsam in jede einzelne Klasse.

Das längere gemeinsame Lernen ist in ganz Europa und auf der Welt weit verbreitet. Nirgendwo gibt es deswegen so viel Aufregung wie in Deutschland. Es ist einfach selbstverständlich, dass eine demokratische Schule seinen kleinen Bürgern möglichst lange die gleichen Startchancen einräumt. Und seltsam:

Was soll ein Kompromiss bei dem fundamentalen Recht auf Bildung? Sind Menschenrechte doch teilbar? Kann man einem Teil der Kinder besser Chancen einräumen als einem anderen?

Walter Scheuerls Wettbewerbsargument ist für einen Rechtsstaat schwer tragbar: Gesetze gelten für Bürger gleich – oder würde jemand auf die Idee kommen, zwei Steuersätze probehalber in einem Modellversuch miteinander konkurrieren zu lassen? Nein, die sechsjährige Grundschule sollte man ganz einführen oder gar nicht?

4. Was hat „Wir wollen lernen“ erreicht?

Die Ini kann ausgesprochen positive Folgen haben, wenn man die Einführung der neuen Primarstufe mit noch mehr pädagogischer und qualitativer Unterstützung einführt. Dann hätte sich die Aktion gelohnt. Kommt es zu einem Volksentscheid wäre dies die demokratisch beste Antwort auf den Konflikt. Denn dann könnte man die Hamburger Bürger fragen, ob sie ihre Schulen modernisieren wollen – oder ob sie auf dem ständischen Prinzip (Ole von Beust) der früh gegliederten Schule beharren.

Nicht unwichtig ist, ob und wie sich die SPD positioniert. Die Sozialdemokraten haben eine ulkige Position: Sie sind einerseits vehement FÜR das längere gemeinsame Lernen, wollen aber MOMENTAN nicht verraten, wie sie das einführen wollen. Verlöre die Ini von Walter Scheuerl die Unterstützung der Sozialdemokratie, würde ein Volksentscheid sicher offener werden. „Es ist auch unser Erfolg, dass heute alle Parteien für das gemeinsame längere Lernen einstehen,“ sagte Fraktionschef Neumann beim Neujahrsempfang der SPD Hamburgs. Die Zerrissenheit der SPD zeigt sich wunderbar an einem Interview des SPDler Thies Rabe zum Thema. Er sagt: Die Idee der Primarschule ist famos - aber ihre Umsetzung sei nicht gut. 

Zudem hat „Wir wollen lernen“ (WWL) mit einer merkwürdigen Aktion seine Anhänger verwirrt. WWL sammelte enorm viele Stimmen beim Bürgerentscheid mit der Verletzung des Elternwahlrechts, gegen dessen Verletzung es so lang und lautstark demonstrierte. Nun aber plötzlich ein Kehrtwende. Walter Scheuerl ist gar nicht mehr für das Elternwahlrecht, wenn es ab der sechsten Klasse gilt. Denn er hat erkannt, dass die völlig Freigabe des Elternwahlrechts ab der sechsten Klasse seine geliebten Gymnasien vor eine Zerreißprobe stellen würde. Dann könnte JEDER seine Kinder aufs Gymnasium schicken. Daher votierte er nun plötzlich für ein Recht nur nach der vierten Klasse – das obendrein nur für bestimmte Eltern gelten soll: Das Bildungsbürgertum. 

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07.10.2009
17:56

Emily - oder das Ende der Kindheit

Das bayerische Grundschulabitur empört die Eltern

Bayerns Eltern sind einiges gewohnt an Drill und Leistungsanforderungen. Aber jetzt wird es sogar ihnen zuviel. Die weiß-blauen Landesherren haben die Prüfungen in den 4. Klassen neu geordnet. Damit alles schön vergleichbar, gerecht und gerichtsfest zugeht, werden 22 Proben für den Sprung aufs Gymnasium verbindlich festgelegt. Der Freiraum der Lehrer schrumpft gegen Null.

Der Lehrerverband BLLV ärgert sich über das neue "Grundschul-Abitur". Und unter den Eltern baut sich eine regelrechte Wutwelle auf. Sie sind empört, was ihren 8- bis 10jährigen Kindern alles abverlangt wird: Der Notendruck in der Grundschule ist so stark wie man es bislang nur im Turbo-Gymnasium gewohnt war. Sogar der konservative Münchener Merkur regt sich auf. 

„Emily hat Reiten aufgehört“ - weil ihr der Stress in der Schule zu viel ist. In diesem Satz der Mutter einer Drittklässlerin steckt nicht allein der exaltierte Anspruch bildungsbeflissener Eltern. Es ist das Ende der Kindheit, von dem zu berichten ist.

Gerade in der prosperierenden Region um München gilt es subjektiv als Schande, sein Kind nicht aufs Gymnasium zu bringen. Es ist den Leuten aber auch ein objektives Problem, wenn ihre Kinder es nicht aufs Gymnasium schaffen. Sie wissen, welche Superjobs man in München haben muss, um in der Hauptstadt der Schickeria gut leben zu können. Die Folge ist Druck, Druck, Druck. 

Die Lehrerin verpasst Emily eine Zwei, obwohl sie keinen Fehler hat in einer kleinen Geschichte. Die Mutter wundert sich. Jetzt könnte man sagen, „Ach Gottchen, eine Zwei, das ist doch auch was schönes!“ Ja, aber im Vierjahresrennen zum Abi ist die Zwei ein Problem. Für die Eltern, weil sie für ihr Kind die verdiente Eins haben wollen. Für Emily, weil sie wieder nicht die Leistungen der drei besten Pferde im Stall gebracht hat. Emily hält sich nun tatsächlich für blöd.

Was ist das eigentlich für eine Schule, die Kindern das Gefühl vermittelt, sie seien dumm?

Die Lernsituation in Münchens Grundschulen nimmt tragikkomische Züge an. Eine Lehrerin gibt den Eltern bekannt, dass die Zeit in der Schule fürs Erklären des Stoffs oft nicht mehr ausreiche. Eine andere gibt dem Kind eine Hausaufgabe mit, die durch nichts vorbereitet ist. Es ist schlicht der Lernstoff – den nun die Eltern dem Kind beibringen sollen. Als die Mutter das Kind fragt, wie die Lehrerin es erklärt hat, sagt sie: „Sie hat es gar nicht gemacht, du sollst es machen.“ In der Woche drauf soll das Zuhaus-Erlernte in einer Probe abgefragt werden.

Wozu ist Schule da – wenn nicht zum Erklären? 

Für Eltern und Kinder baut sich eine schier ausweglose Situation auf. Sie sehen ihre Lieben in einem zermürbenden Leistungswettlauf. Aber die vierte Klasse ist nunmal die magische Grenze. Wer hier Misserfolg hat, verpasst den Sprung aufs Gymnasium. Und dort wird der Kampf ja weiter gehen. Etwas anderes als das Achtjahres-Stopf-und-Press-Abitur wird in München nicht angeboten. Es gibt eine einzige Gesamtschule in der ganzen Region. Das heißt, Wettbewerb geht hier schon ab sieben Jahren über alles. Passenderweise, bekommt Emily eine Strafarbeit aufgebrummt. Was hat sie Böses getan? Sie hat ihrer Tischnachbarin bei einer Probe mit einem Tintenkiller ausgeholfen.

Was ist das für eine Schule, die Teamarbeit bestraft? 

Alle fragen, was kann man machen? Die Antwort ist einfach: Erstens – von zuhause nicht zusätzlichen Druck auf die Kinder ausüben. Zweitens – die Noten abschaffen. Drittens – endlich den Übergang auf die weiterführenden Schulen auf die sechste oder, besser, die achte Klasse verschieben. Viertens – Alternativen zum Turbo-Abi aufbauen. Kurz: Gute Schule machen.

Und: Sich mit dem BLLV gegen die Situation wehren.

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