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Doofe Deutsche Schulreformen
Nur die UN und die Wirklichkeit schaffen Schulreformen
Gott, war das peinlich! Ein französische Journalistin wollte von mir wissen, ob die deutsche Schulreformen seit dem Pisaschock eigentlich zielgerichtet waren. Und als ich das alles zu erklären versuchte, musste ich mich richtig schämen: Wie blöd kann ein Land eigentlich sein, seinen Kindern eine so ungerechte und schlechte Schule zuzumuten - und sich gleichzeitig weigern, es einfach besser zu machen.
Peinlichkeiten und Wirklichkeitsverweigerungen
Deutsche Schulreformen seit Pisa 2000 sind eine Aneinanderreihung von Peinlichkeiten und Wirklichkeitsverweigerungen. Inzwischen hat sich die Wirklichkeit zwar so einigermaßen durchgesetzt - die hirntote und schülerpeinigende Hauptschule bekommt selbst von der CDU keine Infusionen mehr. Man könnte es so abkürzen: In Deutschland schaffen nur der Zwang der Vereinten Nationen und der Druck der Wirklichkeit Schulreformen. Freiwillig machen die KuMIs (Kultusminister) nichts.
(Aber, das wird lustig, zum Abschied sagt die CDU nicht etwa leise "Servus Hauptschule!", sondern sie rächt sich bitter an Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU): Sie wird - das ist meine Prognose - zurücktreten müssen. Weil sie der CDU ihre Ideologie austreiben wollte.)
Hier nun ein paar Zitate, die zeigen, wie bekloppt deutsche Schulreformen sind.
(Liebe Lehrer, ich freue mich sehr auf Eure Beiträge! Schreibt ruhig auf, dass ihr Euch total Mühe gebt und die Hauptschule doch irgendwie ganz doll ist. Aber bedenket: Ich spreche zunächst vom Schulsystem und nicht direkt von Euch. Ihr könnt eigentlich nichts dafür, ihr seid nur die Funktionäre eines ungerechten, ungesunden und ineffizienten Schulsystems.)
Großes Reformgewurstel
"In Deutschland gab es zahllose Schulreformen seit dem Pisaschock im Jahre 2001. Es war wie ein großes Reformgewurstel, aber kein zielgerichtetes Verbessern der entscheidenden Schwäche: Bekämpfung der Bildungsarmut und Ungerechtigkeit des deutschen Schulwesens.“1
3 Beispiele: Schulformen, Ganztagsschulen und G8
Schulformen
Hintergrund: Die Kultusminister behaupten seit 2001, die Schulstruktur habe mit der Ungerechtigkeit des Schulsystems nichts zu tun. Das ist natürlich blanker Unsinn, wie man an der Zusammensetzung der Hauptschulen leicht erkennen kann. Dort ballen sich – was statistisch vielfach belegt ist - die Risikoschüler. Das ist ja auch Idee und Ziel der deutschen Schule, die mit 10 Jahren die Kinder in gute und schlechte einteilt und auf die Schulformen nach LEISTUNG verteilt. Das dreigliedrige Schulsystem ist in Wahrheit sogar in vier Formen gespaltet – in Sonder-, Haupt- und Realschule sowie Gymnasium.
"Inzwischen schaffen nahezu alle Bundesländer die hoffnungslosen Hauptschulen ab. Und fusionieren sie mit den Realschulen. Aber das ist keine gezielte Reform, sondern ein unkoordinierter Rückzug von einer unhaltbaren ideologischen Position. Die soziale Wirklichkeit setzt sich durch.“
(Nur Hessen besteht weiter auf Hauptschulen, Bayern benennt sie lediglich in Mittelschulen um. Als erstes Bundesland führte Schleswig-Holstein 2007 Gemeinschaftsschulen ein. Die östlichen Bundesländer hatten bereits in den 1990er reformiert. Die vorerst letzten Bundesländer, die die Hauptschulen abschaffen, sind Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Liebe Lehrer, bitte jetzt beschweren, dass die Sache in NRW viel viel komplizierter ist.)
Babylonisches Namenschaos
„Das Ergebnis ist ein babylonisches Namenschaos bei den Schulen: Die Nachfolger der Hauptschulen heißen – Oberschule, Regelschule, Sekundarschule, Mittelschule, Realschule plus oder Regionalschulen. Die integrierten Formen mit Abitur heißen Gesamtschulen oder Gemeinschaftsschulen.“
„Alle Pisaforscher empfahlen, den Dschungel von Schulformen zu lichten und neben dem Gymnasium nur noch eine integrierte Schulform mit Abitur zu belassen. Die Kultusminister lehnten das jahrelang aus ideologischen Gründen ab.“
„Deutschland ist - bildungspolitisch gesehen - ein Schurkenstaat. Die Sonderschulen müssen aufgelöst werden – auf Befehl der Vereinten Nationen, die das Aussortieren von Behinderten aus dem allgemeinen Schulwesen als menschenrechtswidrig eingestuft haben. Aber die Länder wehren sich dagegen.“Ganztagsschule
Ganztagsschule
„Die Ganztagsschule war die einzige koordinierte Reform, kein Wunder, der Bund finanzierte sie damals mit der teuersten Schulreform aller Zeiten: Rot-Grün stellte im Jahre 2002 ingesamt 4 Milliarden Euro für den Umbau von Halbtags- zu Ganztagsschulen zur Verfügung. Aber die Bundesländer fühlten sich durch die Initiative in ihrer so genannten Kulturhoheit der Länder verletzt.“
[Bildung ist Aufgabe der Länder; die Kultusministerkonferenz ist älter als das deutsche Grundgesetz.]
Ohne Verfassungsänderung keine Schulinvestition
„Die Umsetzung der Reform war typisch deutsch: Die konservativen Ministerpräsidenten nahmen das Geld für die Baumaßnahmen zwar zähneknirschend an. Aber sie stellten so gut wie kein zusätzliches Personal zur Verfügung. Und ließen danach sofort die Verfassung ändern: Seitdem (2006) gibt es in Deutschland ein Kooperationverbot zwischen dem Bund und Ländern. Das heißt: Der Bund darf sich in die Schulangelegenheiten der Länder grundsätzlich nicht mehr einmischen.“
„Das ist vollkommen absurd! Während der Finanzkrise wurden sofort viele Milliarden Euro für die Verschrottung von alten Autos ausgegeben. Aber für ein Konjunkturprogramm in den Schulen (Computer, Umbau etc.) musste die Verfassung erst geändert werden – weil dem Bund Finanzspritzen in die Schulen verboten waren!“
Ganztagsschule
Die Verkürzung der Gymnasien von neun auf acht Jahre hat mit Pisa nichts zu tun. Diese Idee kam vorher auf, weil deutsche Abiturienten im Vergleich zu anderen ein bis zwei Jahre älter sind.
„Die G8-Reform ist ein Musterbeispiel für die blockierte Kultusministerkonferenz. Die Schulminister einigten sich auf die Verkürzung der Schulzeit um ein Jahr. Aber eine Reduzierung der Inhalte blieb in den wirren Gremien stecken. Das heißt: Die Schüler müssen nun in acht Jahren praktisch den selben Stoff lernen wie vorher in neun Jahren. Die Proteste dagegen flammten aber erst auf, als die Eltern und Schüler merkten, dass sie nun viel mehr büffeln müssen – und praktisch keine Freizeit mehr haben. Da war die G8-Reform aber längst beschlossen.“
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Fußnote
1Bildungsarmut: Bei Pisa 2000 – veröffentlicht 2001 – wurden fast 25 Prozent Risikoschüler und funktionale Analphabten gemessen; 2009 sind es immer noch 20 Prozent. In den Hauptschulen konzentrieren sich teilweise 60 bis 90 Prozent der Risikoschüler; bei der Kompetenz Lesen produzieren ALLE BUNDESLÄNDER mehr Risikoschüler (schlechte Schüler) als Spitzenschüler – Sachsen 11,9 % (Risikosch.) zu 10,3 % bis Hamburg 27,8 zu 9,6 % (siehe Anhang Prenzel, Folie 8)
Ungerechtigkeit: Kinder von Akadmikern haben eine sechs Mal so große Chance, aufs Gymnasium zu kommen als Kinder von Arbeitern – BEI GLEICHER INTELLIGENZ UND GLEICHEN FÄHIGKEITEN. Von 100 Beamtenkindern landen 82 auf der Hochschule, von 100 Arbeiterkindern 23
Gymnasium über alles
Wieso die Schulreformtexte aus dem SZ-Feuilleton nerven
Das Feuilleton der Süddeutschen hat wieder zugeschlagen. Burkhard Müller schreibt einen Text über die Bildungsreform. Es ist ein sehr gelehriges Stück, bei dem es teilweise mit dem Verständnis hapert, weil der Autor in einer Sprache spricht, bei der man ahnt: Es muss ihm um höhere Bildung gehen, ums Gymnasium und die Universität und den Verfall der Humboldtschen Sitten etc.
Den Pöbel ausschließen
Man hat sowas in der SZ öfter gelesen, und es ist auch immer die gleiche Spezies von Autoren, die diese Texte schreibt: Der höhere Feuilletonist, der seine Bildungsgüter dringend bewahrt wissen will - und auch geschützt vor einem Pöbel, der durch eine Einheitsschule oder solche Sachen in den Genuss jener Bildung kommen soll, die das Gymnasium von jeher für bestimmte, kleine Schichten reserviert hat. Dass es damit aus ist, kann sich mancher der Kulturschreiber nicht vorstellen, aber bitte.
Der letzte SZ-Mensch, der in dieser Richtung schrieb, war Johan Schloemann mit einem geradezu reaktionären Stück in der SZ am Wochenende im Februar 2010, wo er ziemlich explizit ein scharfe Verknappung des Bildungsguts für Geeignete forderte.
Spezialität gymnasialer Diskurse
Burkhard Müller macht es bisschen versteckter, es geht diesmal – auch das eine Spezialität gymnasialer Diskurse – um die Inhalte. Die Klage lautet: Die ganzen Bildungsreformen abstrahieren von den Inhalten, lehren solcherlei Dinge nur exemplarisch. Müller gipfelt in dem Satz:
„Um doch zu so etwas wie einer Synthese zu gelangen, müsste zuallererst einmal Übereinstimmung erreicht werden, was sich zu lernen lohnt, und zwar um seiner selbst willen. Unzutreffend ist, dass ein bestimmtes Wissen zu erwerben sich nicht mehr rentiere, da jegliches Wissen in kürzester Zeit der Veraltung verfalle. Auch in fünfzig Jahren noch werden die Sprachen im Großen und Ganzen nach demselben Muster funktionieren, werden die Nebenflüsse des Rheins noch sämtlich an Ort und Stelle sein und die Wiesenblumen überwiegend. Damit ist der harte Kern angedeutet, auf dem man beharren sollte und der sich gegebenenfalls aufstocken lässt.“
Mit anderen Worten: Es kommt auf einen Kanon an! Es muss verbindlich festgelegt werden, was zu lernen ist! Und dieser Kanon besteht aus, bitte gut festhalten! Sprachen, Nebenflüssen des Rheins und Wiesenblumen.
Kanon des 21. Jahrhunderts: Selbständigkeit
Man fragt sich wirklich, ob hier jemand nach hinten ins 19. Jahrhundert schreibt oder ob er sich schon mal die Frage gestellt hat, was Schüler und Jugendliche lernen und können sollten, das ihnen das Überleben im 21. Jahrhundert sichert. Ich bin mir – freundlich gesagt - nicht ganz sicher, ob die Kenntnis der Wiesenflora reicht, um sich für einen der nicht mehr lebenslangen, extrem auf Kreativität und Kommunikationsfähigkeit getrimmten Jobs zu qualifizieren, ob die Kenntnis der Nebenarme des Rheins genug Problemlösungskompetenz generiert, um den permanenten Krisen und Katastrophen, die uns heimsuchen, etwas entgegen zu setzen.
Bildungsreform als Backlash
Im Grunde ist der ganze Modus des Textes altbacken und sattsam bekannt. Er ergeht sich in der Klage, dass „alle Bildungsreform diese unergiebige, undialektische Gestalt des Pendelschlags oder Backlashs annimmt“ - also eitel und sinnlos sei. Das ist erstens ein Offenbarungseid: Ok, unsere Schule ist nicht gut, nicht gerecht, nicht gesund (für Schüler, Lehrer und Familien), aber ändern klappt ja irgendwie nicht. Also, lassen wirs!
Und zweitens kann meines Erachtens die Fokussierung Müllers auf einen Kanon keinerlei Gültigkeit mehr haben für eine Schule des 21. Jahrhunderts. Denn sie wird ganz anders aussehen. Sie hat keinen Kanon mehr – es ist nach den Explosionen des Wissens auch ganz unmöglich so etwas festzulegen. Sie hat auch niemanden mehr, der von vorne Kanones vorschreiben könnte. Sondern Schule wird Sinnsuche ermöglichen, indem Schüler sich die Themen – beraten von den Lehrern – weitgehend selber suchen, die sie bearbeiten wollen, genauer: die Krisen des Planeten setzen die Themen. Selbstverständlich wird es auch Stoffe geben, die verbindlich sind und die man auf eine moderne Art wird üben müssen: Es sind jene Kernkompetenzen, die wir gut beherrschen müssen – Schreiben, Lesen, Rechnen, gut Rechnen sogar, komplexe Zusammenhänge verstehen und analysieren. Die Sprachen, einzige Zustimmung, gehören sicher dazu.
Hauptschule als Teil der Schulreform
P.S. Man muss der Vollständigkeit halber sagen, dass Alex Rühle ganz anders drauf ist, auch er aus dem SZ-Feuilleton, der unter die Objekte von Bildungsreform tatsächlich auch Hauptschule subsummiert, z.B. in einem sehr schönen Stück über die Hauptschule.
European Tracking System
Und man muss, um den Kontrast herzustellen, die Texte aus anderen Ländern über Bildung heranziehen, etwa das fantastische Stück von Louis Menand im New Yorker jüngst. Dort besteht nicht die Kernfrage darin, wie man viele ausschließen kann, sondern wie man viele in Bildung, Lernen und Qualifikation einschließen kann. Dort herrscht auch Klarheit darüber, dass eine Beschränkung auf wenige eben der europäische Weg sei:
"This is the tracking approach. You don’t wait twenty years for the system to sort people out, and you don’t waste resources on students who won’t benefit from an academically advanced curriculum. You make a judgment much earlier, as early as middle school, and designate certain students to follow an academic track, which gives them a liberal education, and the rest to follow a professional or vocational track. This is the way it was done for most of the history of higher education in the West. It is still the way it’s done in Britain, France, and Germany."
Eltern wollen wieder rein in die Kartoffeln
Eine Elterninitiative hat eine Petition gestartet, um in Berlin das neunjährige Gymnasium wieder einzuführen
Die platte Wiedereinführung des G9 ist genauso hirnrissig wie es die des G8 war. Eltern halt. Es geht darum, die A R T des Lernens im Gymi zu verändern, nicht an der Länge herunzupopeln.
Weg mit dem 45-Minuten-Takt, weg von Stopfbuden wie der KKOS, hin zu intelligenten Lernarrangements wie Wochenplan, Freiarbeit, Enrichment, Experimentallaboren und großen Projekten.
Im Gymnasium herrscht bitterste pädagogische Armut, weil die Damen und Herren Studienräte immer noch vom preußischen 5-Prozent-Gymnasium träumen. Dabei sind sie an der 50-Prozent-Hauptschule. Aufwachen!
Ein Jahr mehr oder weniger - whatever!
Berliner Schul-Apartheid der Bürger
Selektion unter der Flagge der Hochbegabung
Formell ging es in einem offenen Brief, den dieser Tage ein Mitglied des Berlin-Pankower Bezirkselternausschusses an Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) schrieb, um hochbegabte Kinder. Angeblich bekommen "begabte und hochbegabte Pankower Kinder" nämlich keinen Platz am Gymnasium. Und werden deshalb benachteiligt - eine "tumbe Attacke auf die Besten", schreibt ein Elternvertreter. Er hat dazu ein ca. 20-strofiges Weihnachtsgedicht verfasst, das so beginnt:
"Im ganzen unserm Lande kennt
man die, die man schlicht Genius nennt.
Neunhundert stellen jedes Jahr
die künftgen Wissenschaftler dar.
und bangen hin zur fünften Klasse,
daß man sie ans Gymnasium lasse."
Diese scheinbar naiv vorgetragene Bitte nach Förderung für besonders Begabte hätte natürlich, würde sie der Senator berücksichtigen, eine ganze andere Folge: Eine weitere Fragmentierung des Berliner Schulwesens - denn angeblich hochbegabte Kinder gibt es im Prenzlauer Berg/Pankow neuerdings zuhauf. Agressiv verlangt eine spezielle Schicht immer mehr und immer absonderlichere Gymnasialplätze. Wer keine Lust auf sechs Jahre Grundschule hat, nennt sein Kind neuerdings hochbegabt. Das kommt heraus, wenn Schulgesetze nicht allgemein gelten, sondern bestimmte Klientele bedienen sollen.
Pädagogische Selektierer
Klar muss man langsamere wie schnellere Schüler so individuell fördern, wie es nur geht. Die Mitte übrigens genauso. Dafür gibt es auch eine intensive pädagogische Debatte und eine besser werdende Praxis. Aber was einige Selektier-Sektierer letztlich erreichen wollen, ist keine pädagogische Förderung, sondern eine institutionelle Absonderung. Sie wollen eigene Schule für IHRE Kinder - ohne den doofen Rest.
Die angeblich besseren, die besten und die hochbegabten Schüler - jeder kriegt seine eigene Schuhschachtel namens Gymnasium, Sport-Gymnasium, Musik-Gymnasium, Elite-Gymnasium etc. Wenn man aber die vermeintlich Guten und Besseren alle herausliest, dann bleiben trotzdem immer ein paar übrig. Wo kommen die hin? Genau, die werden herausselektiert in die Schlechtenschulen, da werden sie konzentriert und gesammelt - und einer sedierenden Pädagogik unterworfen.
Selektieren als deutsche Spezialität
Man kann es Hartz IV-Pädagogik nennen oder pädagogische Friedhofsruhe (wie es Hans Wocken tut). Kurz gesagt, ist es nichts weiter als ein pädagogisches Verbrechen, Kinder in Förderschulen zu stecken, weil man diesen Kindern in den Sonderschulen in Wahrheit praktisch das intellektuelle Lichtlein auspustet. Es gibt es eine Vielzahl von Studien, die das belegen, z.B. Lisa Pfahl im WZB-Brief.
Dies ist kein Zufall und nicht Gottes Werk - es hängt unmittelbar damit zusammen, dass bestimmte Leute denken, ihre Kinder hätten ein staatlich verbrieftes Recht auf Förderung OHNE DIE ANWESENHEIT ANGEBLICH DÜMMERER KINDER.
Das Selektieren ist eine deutsche Superspezialität, wie wir seit 1933ff wissen. Politisch und bevölkerungstechnisch geht das selbstverständlich nicht mehr so einfach wie damals. Aber, Hand aufs Herz, ist der neue Auslesewahn nicht der kleine Bruder von anderen, ebenfalls biologisch begründeten Selektionen? Und exekutiert ihn nicht erneut eine von keinerlei demokratischen Skrupeln angekränkelte Bürgerschicht, die ihren Nachwuchs vom Pöbel absondern will?
Nicht von Dummkinderchen bremsen lassen
Die Begründungen aus dem Offenen Brief an Zöllner sind genau so biologistisch - und erheben ultimativ Anspruch auf politische Folgen: Es gibt superschlaue Kinder, die sind eben klüger, die dürfen nicht durch irgendwelche Dummkinderchen gebremst werden. Also brauchen sie eine eigene Schule!
Pisaversteher meint: Sorry, aber der Staat als der wichtigste Betreiber von Schulen muss nicht Sonderinteressen bestimmter Leute bedienen. Ja, er muss alle Kinder fördern und auch die schnelleren ganz besonders. Aber er hat zuvörderst eine Verfassung umzusetzen, in der es gleiche Rechte und beste Entwicklungschancen für alle Kinder zu geben hat. Punkt.
Hochbegabte in der Sonderschule vergessen
Die Förderung Hochbegabter klappt, wie wir wissen, viel besser in heterogenen Gruppen mit weiten Freiräumen. Allein schon deswegen, weil man dann nicht plötzlich mal einen Hochbegabten in der Sonderschule vergisst - was bislang ziemlich häufig vorkommt.
Vor Hochbegabung hilft ein Blick ins Grundgesetz. Man muss auch nur die ersten drei Artikel lesen, dann weiss man, was geht - und was nicht. It's the democracy, gifted!
Bildungsbürger erhöhen Auslesedruck
Was lernen wir? Das Bürgertum zieht seine Konsequenzen, wenn der Staat mehr Integration einführen will, wie in Hamburg und Berlin praktische Schulpolitik. Wird die Auslese unter vom Staat abgebaut, dann volksbegehrt das Bürgertum dagegen. Oder erhöht den Auslesedruck oben - durch die Forderung nach Spezialschulen für "Hochbegabte".
P.S. Richtig interessant wird es erst, wenn alle verstanden haben, dass das Kellergewölbe des deutschen Schulwesens, die unzähligen verschiedenen Sonderschulen aufgelöst werden müssen. Niemand anderes als die Vereinten Nationen fordern das von Deutschland. Das Zauberwort heißt Inklusion, und es hat zur Folge, dass über 400.000 Kinder, die bislang in Sonderschulen verwahrt werden, ins allgemeine Schulsystem wechseln dürfen. Mal sehen, was das Bildungs-Bürgertum dann macht - denn auch Porschefahrer bekommen ja bisweilen ein Kind, was. z.B. Trisomie 21 hat. In normalen Schulen ist der Erfolg von Down-Kindern unglaublich viel größer, wenn Inklusion pädagogisch gut gemacht wird.
Race to the Top – from the bottom
In Deutschland ist die flächendeckende Schulreform von oben gescheitert. Aber unten geht es munter vorwärts
Mir sind die Rückblicke auf den Hamburger Volksentscheid zu selbstgewiß und zu hämisch. Die Schulreformer beziehen im nachinein zu viel Prügel. Immer wieder hört man, die Senatorin Goetsch habe zu viel gewollt und zu wenig erklärt. Sei ja logo, dass das schief gegangen sei.
Das kann so sein, aber ich biete eine andere These: Den Scheuerls und den Guccis hätte man erklären können, so viel man will – die hätten da nie mitgemacht. Nein, der niedergeschmetterte Teil der Schulreform verweist auf die komplizierte Frage: Wie kriege ich eine Reform von Schule und Lernen Richtung 21. Jahrhundert hin – von oben oder von unten?
Da steht ein ODER. Natürlich müsste man das irgendwie von unten UND von oben machen. @lisarosa schreibt ganz lässig, gerade so als wäre es eine Selbstverständlichkeit:
„nicht entweder /oder sondern vor ort + von oben + rechtzeitiger partizipation von unten = finnische strategie. auch bei uns richtig.“
Ja, die Theorie ist schön, so schön – aber sie klappt halt nicht. Denkt irgendjemand, wenn man wir-wollen-für-uns-lernen und Dr. Spitzfindig Scheuerl früher hätte partizipieren lassen, dass sie bzw. er für die sechsjährige Primarstufe zu gewinnen gewesen wäre? Was für eine Naivität! Scheuerl war ganz früh einbezogen – und hat deswegen die große Windmaschine anstellen können. Er hat Partizipation par excellence betrieben – gegen die Reform.
Schulreform von oben versagt seit 200 Jahren
Nein, die Schulreform von oben versagt – wenn man so will – seit 200 Jahren. Von olle Humboldt 1809 beginnend versuchen die Deutschen ihr zutiefst undemokratisches Schulwesen zu öffnen, zu entprivilegieren, teils mit fremder starker Hilfe wie etwa US-Oberbefehlshaber Lucius D. Clay. Allein, es klappt nicht. Verschärft hat sich das in den letzten 10 Jahren. Nach dem Pisaschock hätte es nur eine korrekte Antwort geben können: Demokratie und Effizienz jetzt sofort! Aber die kam nicht.
Unterschichtsfabriken vs. 21st Century Schools
Erst haben die Kultusminister das jahrelang abgelehnt und nun halt das Hamburgische Volk. Und, bitte, Vorsicht. Auch die relativ weit reichenden Reformpläne Bremens und Berlins sollte man nicht vorschnell als Beleg für gelungene Umstellungen von Frontbeladung, Auslese und Unterschichtsfabriken auf individuelles Lernen, Fördern und 21st Century Schools zitieren. Erstens sind beides Stadtstaaten, zweitens ist die Reform dort noch ganz am Anfang. Kritische Wiedervorlage nicht ausgeschlossen.
Was ist die Alternative? Die Schulreform von unten. Sie ist keine faule Ausrede und keine Flucht vor den Hamburger Porsche-Fahrern. Die Schulreform von unten läuft die ganze Zeit schon, und sie ist, mit Verlaub, ein Riesenerfolg. Die in den letzten 15, 20 Jahren entstandenen neuen Schulen wie die Kleine Kielstraße in Dortmund, die Münsteraner Wartburgschule, die Max-Brauer in Hamburg und die Jenaplan in Jena, die Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim oder die Exoten wie die Templiner Waldhofschule oder die Klinikschule Hindelang, diese Schulen sind Superschulen, echte Leuchttürme, die sich vor Besuchern kaum retten können.
Die besten Schulen der Welt: durch Schulreform von unten
Und zurecht. Was es dort an Lern- und Lehrkultur des 21. Jahrhunderts zu bestaunen gibt, ist einzigartig. Es kann sich überall sehen lassen. Diese Schulen gehören zu den besten der Welt. Sie haben nur einen Fehler: Es gibt sie immer nur als Unikat, sie sind wahnsinnig individuell – auch wenn sie sich in der Methode, im Arrangement und in der Philosophie sehr ähnlich sind: no child left behind! Alle Schüler, die sie haben, sind die richtigen, sie gehören dazu!
Das aber ist die Crux – und der groteske Vorwurf, den man an diese Schulen richtet: Ihr seid so wenig! Und: Können das denn wirklich alle? Auch die Stinoschule um die Ecke?
Ja und Nein. Ja, das könnten alle können. Aber nicht auf Befehl von oben und nicht als Klonarmee, die wie bei Star Wars aus der Fließbandretorte marschiert, um das Universum des Lernens zu erobern.
Kein Masterplan
Deswegen hat @lisarosa recht, dass man das von unten UND von oben machen muss, Schulen verändern. Aber sie hat nicht recht, wenn sie so tut, als gäbe es dafür eine Blaupause, ein Klonrezept oder einen Masterplan.
„sowas ist normales gutes Change Management und das haben die Finnen angewendet“, schrieb auch @tliebscher selbstverliebt. Und genau das – ist es eben nicht.
Das change management, das Goetsch und Bürgermeister Beust in Hamburg anzuwenden hatten, war nämlich nicht normal, sondern superkomplex. Sie mussten eine Schulreform von oben UND eine unten organisieren.
Schau mer mal, wies geht?
Das brachte sehr diffizile, ja widersprüchliche Anforderungen mit sich: Unten werben, Schulen und Lehrer mitnehmen – das hat weitgehend geklappt. Oben Mehrheiten organisieren und durchsetzen, auch hart die flächendeckende Variante der sechsjährigen Primarstufe propagieren – damit nicht der absurde, zerstörerische Berliner Flickenteppich entsteht. Das hat auch deswegen nicht geklappt, weil man oben, sprich in der PR-süchtigen Öffentlichkeit härter, alerter und fertiger argumentieren musste als man es in Wahrheit unten wusste. Und - darauf weist Wolfgang Edelstein zurecht hin - weil man jene, deren Kinder von der Reform besonders profitieren sollten - die wenig Bildungsorientierten -, eben ganz anders ansprechen muss. Man stößt hier, das ist eine Lehre aus der schrecklichen Wahlbeteiligung unter Hatz-IV-Empfängern, an die Grenzen der Demokratie.
Manch ein Schulreformer unten fragte sich zwischendurch – zurecht!, - woher die Goetsch denn ganz genau wissen konnte, wie es geht. Nur weil die Max-Brauer-Schule es schon zweimal geschafft hat, sich neu zu erfinden? Und war nicht genau diese Brauerschule plötzlich gegen die Reform? Aber Goetsch musste ja alles wissen, jedenfalls so tun. Man kann nicht eine Schulreform mit dem Beckenbauer-Argument „Schau mer mal“ im Parlament verkünden. Man kann aber auch nicht zugleich unten sagen, „ich weiss schon, wie das alles geht!" – zu Leuten, die es nur selber wissen und machen können.
Ich glaube, niemand hat sich mehr innerlich gewunden als Christa Goetsch, dass es eben keine positive Reformkultur gab und sie deswegen an der einen oder anderen Stelle mehr behaupten musste, als sie wirklich wusste.
Kulturrevolution des Lernens: Das Gymnasium nicht mehr NUR für euch
Das ist die Widersprüchlichkeit: Die Schulreform unten muss eine Kulturrevolution des Lernens entfachen – und dabei nett sein und funktionierende Einheiten schaffen. Die Schulreform von oben muss bürgerliche Gewissheiten aus zwei Jahrhunderten zerstören. Sie muss das Versprechen brechen, das der spätabsolutistische Staat seinen Bürgern gab, auf dass sie keine Revolution machen: Das Gymnasium ist für Euch Schöne und Reiche – und zwar nur für Euch!
Das geht nicht so einfach zusammen, wie sich mancher bloggende Schlauberger denkt.
P.S. Man muss nur in die USA schauen, wie dort Schulreform durchgepeitscht wird, um zu verstehen, wie scharf die Widersprüche sein können. Im „Race to the Top“ verspricht Obama Milliarden für jene Bundesstaaten, die ihre Schulen von Unterschichtsfabriken in funktionierende Lernorte des 21. Jahrhunderts verwandeln wollen. Er gibt ihnen die Freiheit, dafür halbe Belegschaften auszutauschen. Teilweise muss die Hälfte der Lehrer aus failing schools gehen – und es kommen scharenweise neue Lehrer und andere Organisationen, die versuchen, aus dem Stand eine neue Schulkultur zu entwickeln.