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Race to the Top – from the bottom
In Deutschland ist die flächendeckende Schulreform von oben gescheitert. Aber unten geht es munter vorwärts
Mir sind die Rückblicke auf den Hamburger Volksentscheid zu selbstgewiß und zu hämisch. Die Schulreformer beziehen im nachinein zu viel Prügel. Immer wieder hört man, die Senatorin Goetsch habe zu viel gewollt und zu wenig erklärt. Sei ja logo, dass das schief gegangen sei.
Das kann so sein, aber ich biete eine andere These: Den Scheuerls und den Guccis hätte man erklären können, so viel man will – die hätten da nie mitgemacht. Nein, der niedergeschmetterte Teil der Schulreform verweist auf die komplizierte Frage: Wie kriege ich eine Reform von Schule und Lernen Richtung 21. Jahrhundert hin – von oben oder von unten?
Da steht ein ODER. Natürlich müsste man das irgendwie von unten UND von oben machen. @lisarosa schreibt ganz lässig, gerade so als wäre es eine Selbstverständlichkeit:
„nicht entweder /oder sondern vor ort + von oben + rechtzeitiger partizipation von unten = finnische strategie. auch bei uns richtig.“
Ja, die Theorie ist schön, so schön – aber sie klappt halt nicht. Denkt irgendjemand, wenn man wir-wollen-für-uns-lernen und Dr. Spitzfindig Scheuerl früher hätte partizipieren lassen, dass sie bzw. er für die sechsjährige Primarstufe zu gewinnen gewesen wäre? Was für eine Naivität! Scheuerl war ganz früh einbezogen – und hat deswegen die große Windmaschine anstellen können. Er hat Partizipation par excellence betrieben – gegen die Reform.
Schulreform von oben versagt seit 200 Jahren
Nein, die Schulreform von oben versagt – wenn man so will – seit 200 Jahren. Von olle Humboldt 1809 beginnend versuchen die Deutschen ihr zutiefst undemokratisches Schulwesen zu öffnen, zu entprivilegieren, teils mit fremder starker Hilfe wie etwa US-Oberbefehlshaber Lucius D. Clay. Allein, es klappt nicht. Verschärft hat sich das in den letzten 10 Jahren. Nach dem Pisaschock hätte es nur eine korrekte Antwort geben können: Demokratie und Effizienz jetzt sofort! Aber die kam nicht.
Unterschichtsfabriken vs. 21st Century Schools
Erst haben die Kultusminister das jahrelang abgelehnt und nun halt das Hamburgische Volk. Und, bitte, Vorsicht. Auch die relativ weit reichenden Reformpläne Bremens und Berlins sollte man nicht vorschnell als Beleg für gelungene Umstellungen von Frontbeladung, Auslese und Unterschichtsfabriken auf individuelles Lernen, Fördern und 21st Century Schools zitieren. Erstens sind beides Stadtstaaten, zweitens ist die Reform dort noch ganz am Anfang. Kritische Wiedervorlage nicht ausgeschlossen.
Was ist die Alternative? Die Schulreform von unten. Sie ist keine faule Ausrede und keine Flucht vor den Hamburger Porsche-Fahrern. Die Schulreform von unten läuft die ganze Zeit schon, und sie ist, mit Verlaub, ein Riesenerfolg. Die in den letzten 15, 20 Jahren entstandenen neuen Schulen wie die Kleine Kielstraße in Dortmund, die Münsteraner Wartburgschule, die Max-Brauer in Hamburg und die Jenaplan in Jena, die Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim oder die Exoten wie die Templiner Waldhofschule oder die Klinikschule Hindelang, diese Schulen sind Superschulen, echte Leuchttürme, die sich vor Besuchern kaum retten können.
Die besten Schulen der Welt: durch Schulreform von unten
Und zurecht. Was es dort an Lern- und Lehrkultur des 21. Jahrhunderts zu bestaunen gibt, ist einzigartig. Es kann sich überall sehen lassen. Diese Schulen gehören zu den besten der Welt. Sie haben nur einen Fehler: Es gibt sie immer nur als Unikat, sie sind wahnsinnig individuell – auch wenn sie sich in der Methode, im Arrangement und in der Philosophie sehr ähnlich sind: no child left behind! Alle Schüler, die sie haben, sind die richtigen, sie gehören dazu!
Das aber ist die Crux – und der groteske Vorwurf, den man an diese Schulen richtet: Ihr seid so wenig! Und: Können das denn wirklich alle? Auch die Stinoschule um die Ecke?
Ja und Nein. Ja, das könnten alle können. Aber nicht auf Befehl von oben und nicht als Klonarmee, die wie bei Star Wars aus der Fließbandretorte marschiert, um das Universum des Lernens zu erobern.
Kein Masterplan
Deswegen hat @lisarosa recht, dass man das von unten UND von oben machen muss, Schulen verändern. Aber sie hat nicht recht, wenn sie so tut, als gäbe es dafür eine Blaupause, ein Klonrezept oder einen Masterplan.
„sowas ist normales gutes Change Management und das haben die Finnen angewendet“, schrieb auch @tliebscher selbstverliebt. Und genau das – ist es eben nicht.
Das change management, das Goetsch und Bürgermeister Beust in Hamburg anzuwenden hatten, war nämlich nicht normal, sondern superkomplex. Sie mussten eine Schulreform von oben UND eine unten organisieren.
Schau mer mal, wies geht?
Das brachte sehr diffizile, ja widersprüchliche Anforderungen mit sich: Unten werben, Schulen und Lehrer mitnehmen – das hat weitgehend geklappt. Oben Mehrheiten organisieren und durchsetzen, auch hart die flächendeckende Variante der sechsjährigen Primarstufe propagieren – damit nicht der absurde, zerstörerische Berliner Flickenteppich entsteht. Das hat auch deswegen nicht geklappt, weil man oben, sprich in der PR-süchtigen Öffentlichkeit härter, alerter und fertiger argumentieren musste als man es in Wahrheit unten wusste. Und - darauf weist Wolfgang Edelstein zurecht hin - weil man jene, deren Kinder von der Reform besonders profitieren sollten - die wenig Bildungsorientierten -, eben ganz anders ansprechen muss. Man stößt hier, das ist eine Lehre aus der schrecklichen Wahlbeteiligung unter Hatz-IV-Empfängern, an die Grenzen der Demokratie.
Manch ein Schulreformer unten fragte sich zwischendurch – zurecht!, - woher die Goetsch denn ganz genau wissen konnte, wie es geht. Nur weil die Max-Brauer-Schule es schon zweimal geschafft hat, sich neu zu erfinden? Und war nicht genau diese Brauerschule plötzlich gegen die Reform? Aber Goetsch musste ja alles wissen, jedenfalls so tun. Man kann nicht eine Schulreform mit dem Beckenbauer-Argument „Schau mer mal“ im Parlament verkünden. Man kann aber auch nicht zugleich unten sagen, „ich weiss schon, wie das alles geht!" – zu Leuten, die es nur selber wissen und machen können.
Ich glaube, niemand hat sich mehr innerlich gewunden als Christa Goetsch, dass es eben keine positive Reformkultur gab und sie deswegen an der einen oder anderen Stelle mehr behaupten musste, als sie wirklich wusste.
Kulturrevolution des Lernens: Das Gymnasium nicht mehr NUR für euch
Das ist die Widersprüchlichkeit: Die Schulreform unten muss eine Kulturrevolution des Lernens entfachen – und dabei nett sein und funktionierende Einheiten schaffen. Die Schulreform von oben muss bürgerliche Gewissheiten aus zwei Jahrhunderten zerstören. Sie muss das Versprechen brechen, das der spätabsolutistische Staat seinen Bürgern gab, auf dass sie keine Revolution machen: Das Gymnasium ist für Euch Schöne und Reiche – und zwar nur für Euch!
Das geht nicht so einfach zusammen, wie sich mancher bloggende Schlauberger denkt.
P.S. Man muss nur in die USA schauen, wie dort Schulreform durchgepeitscht wird, um zu verstehen, wie scharf die Widersprüche sein können. Im „Race to the Top“ verspricht Obama Milliarden für jene Bundesstaaten, die ihre Schulen von Unterschichtsfabriken in funktionierende Lernorte des 21. Jahrhunderts verwandeln wollen. Er gibt ihnen die Freiheit, dafür halbe Belegschaften auszutauschen. Teilweise muss die Hälfte der Lehrer aus failing schools gehen – und es kommen scharenweise neue Lehrer und andere Organisationen, die versuchen, aus dem Stand eine neue Schulkultur zu entwickeln.
Schulreform von unten - oder gar nicht
Kommentar im Deutschlandfunk 24. Juli
Hamburg hat schulpolitische Geschichte geschrieben. Mitte Juli lehnten es 276.304 Bürgerinnen und Bürger in der Hansestadt ab, die Grundschule um zwei Jahre zu verlängern und pädagogisch aufzuwerten.
Es lässt sich trefflich darüber lamentieren, ob das Volk falsch oder parteilich oder irgendwie ungerecht abgestimmt habe. Oder ob es überhaupt DAS Volk war, wenn vor allem die reichen und gebildeten Hamburger Stadtteile die schwarz-grüne Schulreform ablehnten.
Fakt ist: Eine deutliche Mehrheit lehnte die sechsjährige Primarschule per Plebiszit ab. Das bedeutet: Der Slogan "länger gemeinsam lernen" ist verbrannt.
Kein Schulreformer in der Republik sollte so dumm sein, die Formel einfach weiter zu verwenden - etwa mit dem arroganten Hinweis, die Hamburger Schnöseleltern hätten halt nicht verstanden, was auf dem Spiel steht.
Dennoch ist die schulpolitische Lage seit Sonntagabend 22 Uhr, als der 56-Prozentsieg der Initiative "Wir wollen lernen" amtlich bestätigt wurde, nicht leichter geworden. Ja, das Volk hat Nein zu einer Demokratisierung der Grundschule gesagt. Ja, es stimmt aber auch, dass es eben kein ideologisches Konstrukt war, was der Erste Hamburger Bürgermeister Ole von Beust und seine eifrige Schulsenatorin auf den Weg bringen wollten. Sondern dass es dafür handfeste empirische Gründe gab: Fast in keiner deutschen Stadt sind die Schulen so schlecht wie in Hamburg etwa die Hauptschulen. Acht von zehn Schülern dort können kaum lesen. Man nennt diese Gebilde in Forscherkreisen nicht umsonst Schulen der Hoffnungslosigkeit oder gern auch Unterschichtsfabriken.
prepare to prison
Wie bitte soll die erste und am meisten globalisierte Stadt Deutschlands, die Hafenstadt Hamburg, Wohlstand und Bürgerrechte sichern, wenn 25 bis 30 Prozent ihrer Jugendlichen weder berufs- noch lesefähig sind? Und in Essen, Dortmund, Frankfurt, in Berlin und Bremen sowieso, aber auch in Stuttgart und München ist es doch nicht anders: An der Isar nennt man Hauptschulen in bestimmten Stadtbezirken mittlerweile "prepare to prison" - denn sie haben ja objektiv die soziale Zusammensetzung von Justizvollzuganstalten.
Die Kürze der hiesigen Grundschule steht damit in ziemlich engem Zusammenhang. Man muss da gar keine Pisastudien lesen, wo klar bewiesen wird, dass die Auslese zum Gymnasium nicht nach Leistung, sondern nach sozialer Herkunft erfolgt. Man muss nur Unterschichtseltern fragen, wie chancenlos ihre Kinder nach vier Jahren sind. Oder gern auch Mittelschichtsfamilien, wie sehr ihnen der enorme Druck auf die Nerven geht, der heute bereits auf Drittklässler ausgeübt wird. Die Flucht aus dem staatlichen Schulsystem ist vor allem in der Grundschule ein nicht zu leugnender Fakt.
Grausame Zwickmühle
Hamburgs Eltern und Volksbegehrer haben die Republik also in eine grausame Zwickmühle manövriert.
Auf der einen Seite werden bereits die Messer gewetzt, um Volksentscheide im Saarland und Nordrhein-Westfalen vorzubereiten. Motto: Finger weg von den Schulen! Im Saarland soll es bald eine fünfjährige Grundschule geben; in NRW sind ein Drittel neuer Gemeinschaftsschulen geplant, die ihre Schüler bis zur sechsten Klassen gemeinsam unterrichten dürfen.
Auf der anderen Seite greifen die Demografie und die Wirtschaft das bestehende Schulsystem viel schärfer an als linke Schulreformer: In den großen Bundesländern, den Big Five, wo 75 Prozent der deutschen Schüler zur Schule gehen, steht ein beispielloses Schulsterben bevor.
Hunderte, ja Tausende Hauptschulen werden in Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen eingehen - wegen Schülermangels.
Gleichzeitig ruft die Industrie immer lauter nach immer radikaleren Reformen: Von der Einschulung mit vier Jahren bis hin zur Verschmelzung von Haupt- und Realschulen ist da alles im Programm, was man sich denken kann.
Mega-Unternehmen Schule vor dem Kollaps
Was also tun? Schulfrieden gewähren - und alle Verbesserungen einstellen? Oder ein, wie nicht wenige fordern, ein bundeseinheitliches Schulsystem schaffen? Beide Forderungen sind nachvollziehbar -- und doch Kokolores. Fast 400.000 Lehrer gehen bald in den Ruhestand. Wer glaubt, er könne die Hälfte des Mega-Unternehmens "Deutsche Schule" veränderungslos ins 21. Jahrhundert führen, der ist genauso realitätsblind wie derjenige, der meint, er könne dem alten Föderalismus sein Herzstück herausreißen - die Kulturhoheit.
Nein, die Schulreform ist tot - es lebe die Schulreform. Nur, dass sie nicht mehr von oben betrieben wird, als flächendeckende Zwangsbeglückung. Die Schulreform "post Hamburg-Plebiszit" ist die lokale. Wo kopfschüttelnde Eltern plötzlich zu engagierten Helfern werden, wo Bürgermeister und Unternehmer gemeinsam für eine Schule von morgen arbeiten.
Das Schöne an dieser Regionalschule ist übrigens, dass sie ungeahnte Koalitionen hat. Da streiten grüne Rebbelnbürgermeister einträchtig mit CSU-Stadräten, da kämpft die "Montagsstiftung" mit ihrem regionalen Schulentwicklungsprogramm Seit an Seit mit Bundesbildungsminister Annette Schavan (CDU), die ein Projekt "Lernen vor Ort" mit Millionenbeträgen stützt.
Hamburg ganz unten
Über ein Viertel Schüler, die nicht richtig lesen können
Das Hamburger Abendblatt zeigt, wo Hamburgs Schule steht: ganz unten.
pisaversteher.de präsentiert die Daten aus Pisa2006 E von Manfred Prenzel noch einmal. Aus ihnen geht hervor, dass Hamburgs herrschendes Schulsystem so nicht bleiben kann.
Im Lesen und in Mathematik gibt es über 27 Prozent Risikoschüler unter Hamburgs 15-jährigen. Das heißt sie landen außerhalb messbarer Kompetenzen des Pisatests oder auf der untersten Pisastufe 1.
Beim Lesen bedeutet das: 27 Prozent der Hamburger 15-jährigen können z.B. eine Gebrauchsanweisung nur entziffern - aber nicht verstehen. In den Naturwissenschaften sieht es ein bisschen besser aus, da gibt es "nur" 24 Prozent Risikoschüler.
Nur in einer Disziplin ist Hamburgs Schule deutscher Meister: Im Abstand zwischen guten und schlechten Schülern. Die Eleven der Hansestadt liegen laut Pisadaten 124 Punkte vor den Schmuddelkindern in den Hauptschulen.
Das ist ein dramatischer Wert - er liegt noch über der Differenz zwischen Gut und Schlecht Deutschlands (112 Punkte) und dem Differenz-Mittel der OECD, der bei 99 Pisapunkten liegt.
Was sagt dieser Wert aus? Dass die deutsche Schule die Kinder in ein Oben und Unten spaltet. Und genau in dieser Disziplin liegt Hamburg ganz vorne. Bürgermeister Ole von Beust (CDU) sagte dazu gerade im Thalia-Theater: Es ist gefährlich einen Teil der Jugendlichen einer Stadt einfach zurückzulassen.
Wer Hamburgs Schüler im amtlichen Dokument nachlesen möchte, tue es hier.
Gebrauchsanweisung
Vier oder sechs Jahre Grundschule?
Mit dem Hamburger Anwalt Walter Scheuerl Entrecote im Cafe Paris zu essen, ist ein großes Vergnügen. Aufgeräumt berichtet der fröhliche Mann von seiner Arbeit und seinem Leben. Allzu gerne würde man mit ihm vielleicht mal einen Wanderweg in den Alpen gehen oder mit seiner Seglergruppe ein Törn machen (oder wie das heißt).
Allerdings ist es anders, wenn der freundliche Herr als Sprecher von „Wir wollen lernen“ auftritt, einer Hamburger Bürgerini, welche die Einführung der sechsjährigen Grundschule verhindern will. Da betreibt Herr Scheuerl eine Politik der Falschinformation und Spaltung der Gesellschaft.
Sie glauben es nicht? Gut, dann hier eine kleine Gebrauchsanweisung für den – hoffentlich! - bevorstehenden Volksentscheid in Hamburg über die sechsjährige Grundschule.
1. Was soll diese sechsjährige Grundschule?
Bei dem großen Schulstreit, der im Moment in Hamburg ausgefochten wird, geht es um mehr als eine bloße Verlängerung der Grundschule von vier auf sechs Jahre. Die Idee ist, weniger Kinder zurückzulassen. Und das hat Hamburg bitter nötig – besitzt es doch neben Berlin, Bremen und dem Saarland und noch weit hinter Hessen und NRW die schlechtesten deutschen Schulen. Die Rate an Bildungsverlierern ist in Hamburg besonders hoch, die Zahl der bereits umgekippten Hauptschulen war zuletzt ebenfalls unzumutbar hoch.
Ein Gegenmittel: Die sechsjährige Grundschule, also die Verschiebung der Auslese um zwei Jahre soll im Verein mit einer pädagogischen Aufwertung der Schulen und der Vereinfachung der Schulstruktur auf zwei Säulen die hohen Risikoschülerzahlen reduzieren. Das kann mit diesen Maßnahmen gelingen – wie die Beispiele einer Reihe von Bundesländern zeigen, die mit der Einführung von kooperativen Schulen die Zahl der Bildungsverlierer deutlich drücken konnten. (Siehe Pisa 2006, nationaler Vergleichsbericht)
Mit der Verlängerung der Grundschulen stehen gleichzeitig zwei völlig unterschiedliche Lernkulturen zur Debatte: Hier das auf frühe Auslese zielende gegliederte Schulwesen. Dort eine auf Förderung jedes einzelnen indes bedachte Kultur des integrativen Lernens.
Modell 1 steht für die Schule des 19. Jahrhunderts, die den Sortierauftrag des Staates nach vermeintlich objektiven Begabungen als oberste Maxime kennt.
Modell 2 steht für eine Schule des 21. Jahrhunderts, die das einzelne Kind in den Mittelpunkt des Lernens rückt. Und die pädagogische Armut der Regelschulen bereichert.
2. Erreicht die 6jährige Grundschule ihre Ziele?
Dafür gibt es naturgemäß keine Garantie. Wissenschaftliche Untersuchungen können nur im nachhinein zeigen, ob es gelingen wird, die Schulen der Hansestadt besser, gerechter und moderner zu machen. Ein Selbstläufer wird das nicht, so viel ist klar. Es bedarf einer deutlichen Verbesserung der Lernkultur.
Allerdings gibt es eine Fülle von Studien, die das Modell grundsätzlich für positiv erachten. Die wichtigste hat der Erziehungswissenschaftler Rainer Lehmann vorgelegt. Lehmann verglich die Lernleistungen der fünften und sechsten Klassen der Berliner Grundschule mit den selben Klassenstufen des Berliner (grundständigen) Gymnasiums, die so genannte Element-Studie. In Berlin können Grundschüler prinzipiell vier oder sechs Jahre in die Grundschule gehen.
Das Ergebnis Lehmanns: Die Lernzuwächse an der Grundschule sind im Durchschnitt besser als am Gymnasium. Das ist insofern bemerkenswert, da die Berliner grundständigen Gymnasien eine kleine, bevorzugte Schicht von nur sieben Prozent des Jahrgangs unterrichten – und dennoch keine besseren Gesamtzuwächse erzielen konnten als die Masse der 93 Prozent der Fünft- und Sechstklässler an den Grundschulen.
Zum Vergleich: Das wäre gerade so, als würde der FC Bayern mit einer kleinen Schar von Elitespielern, versorgt mit mehr Geld, teureren Trainern und dem viel anspruchsvolleren Programm schlechter abschneiden als die in der gleichen Liga antretenden Kneipen- und Freizeitmannschaften.
Lehmanns Studie hat zu vielen Diskussionen geführt und wird gern als Gegenbeleg aufgeführt, da Lehmann in einem gezielt politisch gehaltenen Interview seine Ergebnisse in Der Zeit ein bisschen schlicht darstellte. Die Zeit entschuldigte sich kleinlaut. Und der deutsche Pisa-Papst und Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Jürgen Baumert überprüfte Lehmanns Daten zur Sicherheit. Baumerts Ergebnis setzte ein dickes Fragezeichen hinter die pädagogische Qualität des deutschen Gymnasiums:
„In keinem Leistungsbereich sind Förderwirkungen des grundständigen Gymnasiums nachweisbar“, analysiert der beste deutsche Schulforscher. Und resümiert: „Bewertet man die Befunde insgesamt, so sind sie zunächst ein Kompliment für die [sechsjährige, d. Red.] Grundschule. Die Entwicklungskurven von Spitzenschülern verlaufen in der Grundschule und in der Unterstufe des grundständigen Gymnasiums parallel, und zwar nicht nur im Lesen, sondern … auch in der unterrichtsabhängigen Domäne Mathematik. Für die grundständigen Gymnasien sind die Befunde ein Grund zur Nachdenklichkeit. Generell ist fraglich, ob die Gymnasien die Förderung der Lesekompetenz als akademische Aufgabe aller Fächer bislang überhaupt entdeckt haben.“
3. Gibt es einen guten Kompromiss?
Walter Scheuerl schlägt vor, nur einen Teil der Grundschulen auf eine sechsjährige Laufzeit umzustellen. Dann ließe sich „im Wettbewerb“ entscheiden, welche Schule die bessere sei. Eine teilweise Einführung der Grundschule wäre, offen gesagt, ein ganz schlechter Kompromiss – und man sollte es dann lieber ganz bleiben lassen. Auch hier kann Hamburg von Berlin lernen, das ja eine parallele Struktur ermöglicht: Es ist verheerend für die pädagogische Atmosphäre und die Praxis der Grundschule, dass sich Eltern und Kinder stets über vier oder sechs Jahre entzweien. Der Schulkampf wandert gleichsam in jede einzelne Klasse.
Das längere gemeinsame Lernen ist in ganz Europa und auf der Welt weit verbreitet. Nirgendwo gibt es deswegen so viel Aufregung wie in Deutschland. Es ist einfach selbstverständlich, dass eine demokratische Schule seinen kleinen Bürgern möglichst lange die gleichen Startchancen einräumt. Und seltsam:
Was soll ein Kompromiss bei dem fundamentalen Recht auf Bildung? Sind Menschenrechte doch teilbar? Kann man einem Teil der Kinder besser Chancen einräumen als einem anderen?
Walter Scheuerls Wettbewerbsargument ist für einen Rechtsstaat schwer tragbar: Gesetze gelten für Bürger gleich – oder würde jemand auf die Idee kommen, zwei Steuersätze probehalber in einem Modellversuch miteinander konkurrieren zu lassen? Nein, die sechsjährige Grundschule sollte man ganz einführen oder gar nicht?
4. Was hat „Wir wollen lernen“ erreicht?
Die Ini kann ausgesprochen positive Folgen haben, wenn man die Einführung der neuen Primarstufe mit noch mehr pädagogischer und qualitativer Unterstützung einführt. Dann hätte sich die Aktion gelohnt. Kommt es zu einem Volksentscheid wäre dies die demokratisch beste Antwort auf den Konflikt. Denn dann könnte man die Hamburger Bürger fragen, ob sie ihre Schulen modernisieren wollen – oder ob sie auf dem ständischen Prinzip (Ole von Beust) der früh gegliederten Schule beharren.
Nicht unwichtig ist, ob und wie sich die SPD positioniert. Die Sozialdemokraten haben eine ulkige Position: Sie sind einerseits vehement FÜR das längere gemeinsame Lernen, wollen aber MOMENTAN nicht verraten, wie sie das einführen wollen. Verlöre die Ini von Walter Scheuerl die Unterstützung der Sozialdemokratie, würde ein Volksentscheid sicher offener werden. „Es ist auch unser Erfolg, dass heute alle Parteien für das gemeinsame längere Lernen einstehen,“ sagte Fraktionschef Neumann beim Neujahrsempfang der SPD Hamburgs. Die Zerrissenheit der SPD zeigt sich wunderbar an einem Interview des SPDler Thies Rabe zum Thema. Er sagt: Die Idee der Primarschule ist famos - aber ihre Umsetzung sei nicht gut.
Zudem hat „Wir wollen lernen“ (WWL) mit einer merkwürdigen Aktion seine Anhänger verwirrt. WWL sammelte enorm viele Stimmen beim Bürgerentscheid mit der Verletzung des Elternwahlrechts, gegen dessen Verletzung es so lang und lautstark demonstrierte. Nun aber plötzlich ein Kehrtwende. Walter Scheuerl ist gar nicht mehr für das Elternwahlrecht, wenn es ab der sechsten Klasse gilt. Denn er hat erkannt, dass die völlig Freigabe des Elternwahlrechts ab der sechsten Klasse seine geliebten Gymnasien vor eine Zerreißprobe stellen würde. Dann könnte JEDER seine Kinder aufs Gymnasium schicken. Daher votierte er nun plötzlich für ein Recht nur nach der vierten Klasse – das obendrein nur für bestimmte Eltern gelten soll: Das Bildungsbürgertum.
Ein Bürgertum, das seine meritokratischen Tugenden verrät
Lieber Herr Scheuerl,
"Der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist der: Wir wollen das Schulsystem ändern - um jedem Kind eine Chance zu geben.
Sie wollen alles so belassen, wie es ist – damit schulischer Erfolg weiter nach Stand und Geburt vergeben wird."
Walter Scheuerl hat die Bürgerini "Wir wollen lernen" gegründet, um mit ihr in Hamburg gegen die Einführung einer sechs Jahre dauernden Grundschule zu agitieren. Scheuerl warf mir in einem Mailing an seinen Verteiler vor, Wasser zu predigen und Wein zu trinken. (Siehe unten) Dazu schrieb ich ihm diesen Brief:
Lieber Herr Scheuerl,
vielen Dank für Ihr mail. Ich habe mich gefreut, wieder einmal von Ihnen zu hören. Und ich habe mich zugleich gewundert.
Ich darf Sie nämlich korrigieren. Es ist falsch, dass ich wegen der Kinder aus dem Wedding weggezogen wäre. Ich, wir sind im Gegenteil schwanger dorthin gezogen. Und haben uns dann ein paar Jahre später wieder wegbewegt – aus ganz privaten Gründen, wie etwa dem Wunsch, nahe bei Freunden und Geschwistern zu sein. Sie verstehen, dass das kein Thema für eine öffentliche Talkshow ist.
Aber das: Die Qualität der Kindergärten und Schulen im Wedding. Nein, Frank Plasberg hat mich nicht etwa überführt oder verhört oder dergleichen. Was Ihnen wie eine investigative Meisterleistung dünkt, hatten wir ganz unaufgeregt in einem redaktionellen Vorgespräch erörtert. Was Sie als Sensation feiern, habe ich vor über 2 Millionen Fernsehzuschauern gesagt:
Ich würde nicht wollen, dass "mein Sohn der einzige native speaker seiner Lerngruppe ist".
Und ich kann auch niemandem raten, sein Kind in jene "differenziellen Lernmilieus" (Jürgen Baumert) zu stecken, die durch eine unkluge Integrations- und Stadtteilpolitik sowie eine verfehlte schulische Struktur künstlich erzeugt werden.
Ich frage mich, ehrlich gesagt, wieso ausgerechnet Sie meinen Satz skandalisieren? Sie klagen an, ich dürfe das nicht tun, weil ich eine grundlegende Schulreform propagierte.
Ja, ich plädiere politisch für eine radikale Schulreform, die allen Kindern die gleichen Chancen einräumt. Warum sollte ich im privaten meine eigenen Kinder davon ausnehmen?
Ich glaube, hier liegt der Unterschied zwischen Ihnen und mir. Er steht prototypisch für die Differenz zwischen vorsichtigen, aber entschlossenen Reformern – und einem Bürgertum, das Verrat an seinen meritokratischen Tugenden begeht:
Wir wollen das Schulsystem ändern - um jedem Kind eine Chance zu geben und dem Land eine Zukunft.
Sie wollen alles so belassen, wie es ist – damit schulischer Erfolg weiter nach Stand und Geburt vergeben wird.
Sie treten damit (wie übrigens Herr Schindler in Berlin auch) aktiv gegen eine demokratische und gerechte Schule auf. Das sei Ihnen unbenommen. Für Ihre eigene Untätigkeit aber wollen Sie nun andere in Haft nehmen: Wir sollen unsere Kinder in jene Chaosschulen stecken, für deren Erhalt Sie mit Verve in der Öffentlichkeit auftreten.
Verstehe ich Sie richtig, Herr Scheuerl: Sie kämpfen wie ein tapferer Held für den Erhalt schlechter Schulen – und verlangen von mir, dass ich meine Kinder dorthin schicke?
Wenn wieder einmal Fragen auftauchen sollten, dann kehren Sie gerne zu unserer und der guten Praxis des gepflegten Argumentierens zurück. Fragen Sie Ihre Fragen und warten Sie die Antworten ab – gerne auch im direkten Gespräch.
Mit besten Grüßen
Christian Füller
Das Mailing von Scheuerl an seine Hamburger Ini und Interessierte sah so aus:
Liebe Hamburgerinnen und Hamburger,
liebe Eltern und Großeltern, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Schulleitungen, liebe Lehrkräfte,
die Sendung "Hart aber fair" vom 17.6.2009, die sich mit dem Thema Frühförderung schon im Kindergartenalter beschäftigt, ist jetzt online:
ARD v. 17.6.2009: Hart aber fair - Zweiklassengesellschaft schon im Kindergarten?
http://www.wdr.de/themen/global/webmedia/webtv/getwebtv.phtml?p=4&b=229
Interessant ist darin unter anderem das Selbstbekenntnis des taz-Redakteurs Christian Füller, der noch wenige Tage zuvor in seinem Artikel bei SPIEGEL-Online unter der Überschrift: "My Kind first - Wie Eltern gute Schulen verhindern" abwegige klassenkämpferische Thesen vertreten hat (Auszug: "Sie wollen gute Schulen und eine gerechte Gesellschaft - aber nur, wenn's dem eigenen Kind nützt. Eltern sind die größten Bremser im Schulsystem. Sie bekämpfen erbittert Reformen und grenzen sich nach unten hin ab: bloß keinen Kontakt zur Unterschicht."; hier geht's zum Füller-Artikel: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,627628,00.html).
Nach seinem Selbstbekenntnis in der Sendung 'Hart aber fair' muss sich taz-Redakteur Füller jetzt vor allem an die eigene Nase fassen: Moderator Frank Plasberg spricht Füller in der Sendung 'Hart aber fair' darauf an, dass Füller aus Wedding weggezogen und zum Prenzlauer Berg umgezogen ist, damit seine Kinder nicht in die Kitas und Schulen in Wedding gehen müssen. Füller räumt daraufhin (zu sehen ab Sendeminute 62:10) ein:
Zitat Christian Füller:
"Wenn ich eine politische Meinung vertrete, dann kann ich doch nicht meinen Sohn zum Experiment machen und sagen: OK, weil ich 'ne politische Meinung hab', gehst Du in 'ne 100-Prozent-Zuwanderer-Kita."
Christian Füller, ein weiterer Prediger, der Wasser predigt und Wein trinkt?
Herr Füller, der auf Podiumsdiskussionen dazu neigt, gegen die Unterstützer der Volksinitiative "Wir wollen lernen!" zu wettern, sollte sich einfach einmal in die Lage Hamburger Eltern versetzen: Dann wird er verstehen, weshalb die Hamburger Eltern sich dafür einsetzen, die Hamburger Schulen, Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Schulleitungen nicht zum parteipolitischen Experimentierkasten zu machen. In keinem Hamburger Stadtteil und in keiner Hamburger Schule wird sich an den sozialen Verhältnissen dadurch etwas zum Positiven ändern, dass die Klassen 5 und 6 den Grundschulen angegliedert werden und das Elternwahlrecht abgeschafft wird.
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen einen sehr guten Start in die Woche!
Herzliche Grüße,
Walter Scheuerl