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Anmerkungen einer Lehrerin
Offner Unterricht und individualisiertes Lernen – eine Klarstellung
Der „Offene Unterricht“ verspricht, Kindern die Möglichkeit zu geben, intensiver, effektiver und lustvoller zu lernen als im „geschlossenen Unterricht“.
Die Begeisterung aller Kinder für eigene Lernanstrengungen und die Fähigkeiten, die man dafür braucht, sind nicht die Voraussetzung, sondern das Ziel meines Unterrichts.
Ich wünsche mir und arbeite dafür, dass alle Kinder möglichst bald Zugang dazu finden und sie aus meinem Unterricht unverlierbar mitnehmen können.
Auf keinen Fall darf ich diese Anstrengungsbereitschaft - am Anfang der Schulzeit bzw. wenn ich eine Klasse übernehme - bei allen Kindern voraussetzen.
Verwöhnten, verwahrlosten und von der Schule schon enttäuschten Kindern fehlen die dafür nötigen Erfahrungen, Verhaltensweisen und emotionalen Möglichkeiten.
Es ist die große Chance des Lernens im Zusammenhang einer stabilen Klasse, dass die Folgen von Verwöhnung, Verwahrlosung und Enttäuschung im Miteinanderlernen leichter überwunden werden können als im Nebeneinanderlernen eines individualisierten Unterrichts, der die Unterschiede zwischen den Kindern auch in diesem Aspekt eher vertieft als vermindert.
Soziale Komponenten des Lernens ermöglichen und bereichern sowohl das Miteinanderlernen als auch das individuelle Lernen. Durch praktische Erfahrung damit lernt man erst, sie zu schätzen und dann auch aus eigenem Antrieb zu suchen und zu nutzen. Es ist meine Aufgabe, für solche Erfahrungen zu sorgen und sie nicht dem Zufall und dem guten Willen der Lernenden zu überlassen.
Das alles ist nur möglich, wenn ich als Lehrerin einerseits für ein gerechtes Miteinanderleben und -lernen sorge und andererseits jedem Einzelnen helfe, in diesem Miteinander Achtung und Zugehörigkeit zu erfahren und sowohl die Aufgaben für alle und die besonderen Aufgaben für sich – seien sie verordnet oder selbst gewählt - als verbindlich und lohnend zu erfahren.
Jenseits und auf der Basis dieses von mir als der Erwachsenen und Lehrerin verantworteten Miteinanders wünsche ich mir unverplante Zeit, in der besondere Bedürfnisse, Stärken, Interessen und Wünsche der Kinder zur Geltung kommen können, die den Rahmen der Schule, das kultivierte Miteinander in der Klasse und immer wieder auch meine anpassungsbereite Begleitung und Unterstützung und brauchen.
Das ist sozusagen die Hohe Schule, in der alle Beteiligten wissen und beherzigen, dass Freiheit und Verantwortung Zwillinge sind und sich selbst schulalltäglich als gefordert, gestützt und bereichert erleben.
Diese Hohe Schule wird niemals möglich sein, wenn ich die darin nötigen Haltungen und Bereitschaften bei allen Kindern voraussetze oder als Ergebnis von Entwicklung einfach abwarte. Das zu tun ist nur scheinbar kinderfreundlich.
Es ist aber bequem für LehrerInnen.
Und es ist attraktiv für diejenigen Eltern, deren Kinder so tüchtig, selbstbewusst und gut betreut sind, dass sie im individualisierten, eigensüchtigen Lernen an der Spitze der Konkurrenz stehen werden.
Durch die einseitig positive Propagierung, ja: Verklärung des „Offenen Unterrichts“ und „individualisierten Lernens“ erhalten die Eltern privilegierter Kinder und bequeme und verantwortungsscheue Schulen/LehrerInnen ein attraktive Rechtfertigung für ihr Verhalten und ihre Entscheidungen. Sie dürfen meinen, sie seien – im Unterschied zu den Anderen – auf dem richtigen Weg.
Viele LehrerInnen erschöpfen sich und/oder scheitern im Rahmen dieses Konzepts (OU & IL), lasten sich das als eigenes Versagen an, resignieren gegenüber der Überlastung und Vergeblichkeit und/oder der minderen Qualität der ihnen zugewiesenen Menschen und Mittel.
Bringt man Bedenken gegenüber diesem Konzept vor, wird man von den Verfechtern des OU & IL als VertreterIn des bösen Frontalunterrichts, der pädagogischen Rückständigkeit, des eklen Misstrauens gegenüber all den wunderbaren Kindern und der didaktischen Hinterwäldlerei verdächtigt.
Die Verfechter von OU & IL haben in der eigenen Wahrnehmung auf jeden Fall längst schon Recht und müssen nichts mehr lernen. Ihr Konzept von Schule ist ausgereifte Ideologie, die nur noch totale Umsetzung und Verklärung braucht, damit alle glücklich werden.
Diese Ideologie zur Verbesserung der Schule strategisch einzusetzen ist gefährlich.
Sie ist so sehr in Polarisierung zu ihren Gunsten erstarrt, dass sie spaltet, statt zu lockern und zu lösen, und Feindschaft sät, statt zu versöhnen.
Schulstruktur bedingt Lernqualität
oder: Die Sartre´sche Freiheit von @herrrlarbig und @phbudde
Als der forsche Herr Dräger, der gerade ein Buch über Bildungsarmut im Lande Goethes schrieb („Dichter, Denker, Schulversager“) in einem Interview nach der Schulstruktur in Hamburg gefragt wird, macht er den Philipp Lahm – er zieht sofort zurück. „Ich halte längeres gemeinsames Lernen für machbar, aber nicht nötig.“ Guter Unterricht hänge am Lehrer. "Die Schulstruktur ist letztlich egal."
Amen. Was für eine Binse: Längeres gemeinsames Lernen ist möglich! Muss man dafür ein Buch schreiben? In Deutschland ja. Und es dauert zehn Jahre, bis Dräger erkennt, was Christoph Daum in zwei Nächten nach Pisa herausfand: Dass der schiefe deutsche Pisa-Turm unten schief ist und nicht oben. Da spannende ist, dass aber der wichtige Konnex wieder negiert wird. Denn die Struktur ist überhaupt nicht egal.
Schulstruktur und Lernen bedingen sich.
Schulstruktur und Lernen bedingen sich. Nicht so, dass man in einer schlechten Struktur nicht guten Unterricht machen könnte. (Was Leute wie @HerrLarbig sofort auf die Palme bringt, weil er diesen Umkehrschluss zieht: Schlechte Struktur ist automatisch schlechter Lehrer.)
Nein, hier geht es nicht um Lehrerbeleidigung, sondern um einen Vorgang, der auf der flachen Hand liegt: Ein Lehrer wird, so gut oder schlecht er sein mag, in seinem Lernen durch die Schulstruktur stark und permanent beeinflusst: Er muss in der vierten Klasse zu sieben beginnen. Er muss mit Noten arbeiten, denn irgendwie muss der Auslesebefehl der Schulstruktur ja zustellbar sein. Er sitzt hinfort sein Leben lang vor homogenisierten Gruppen, sprich in nach Haupt-, Real- und Oberschule (Gymnasium) ausgelesenen Lerneinheiten, die er nach den Locksteps des Lehrplans gleichschreiten lässt. Na, hoffentlich beeinflusst das sein Lehren nicht!
Homogene Gruppen?
Natürlich sind die Gruppen nicht wirklich homogen, es gibt keine homogene Lerngruppe, sobald mehr als ein Lerner im Raum ist. Kurz gesagt: Das Lernarrangement ist durch die Schulstruktur vorperforiert; die Freiheit des Lehrers ist die Sartre'sche Freiheit des Gefolterten, im inneren Nein zur Folter zu sagen, auch wenn sie ihm äußerlich äußerste Schmerzen bereitet. Kein Wunder, dass @HerrLarbig sagt: "Das heißt nicht, dass die Struktur egal wäre, doch gute Lehrer verzehren sich nicht in ewiger Klage."
Das ist das Schicksal des Lehrers, über das wir nicht weiter räsonnieren wollen. Das kostet zu viele Follower. (Und auch nicht dürfen, in memoriam @phbudde. Denn über den öffentlichen Beruf des Lehrers darf nur der Lehrer nachdenken, nicht etwa der gemeine Bürger.)
Ein Team - aus Individualisten
Aber wir dürfen noch einen Satz über das Schulsystem verlieren. Nur in einem kollaborativen Schulsystem, das heißt, einem nicht vorsortierten, hat der Lehrer einen Anlass, seinen Unterricht wirklich grundlegend umzustellen: Weil er viel mehr Freiheiten hat, er ist frei von einem Sortierbefehl, frei von Noten, freier von einem Lehrplan (den es hoffentlich bald so nicht mehr geben wird). Und weil er die großartige Aufgabe jedes Trainers vor sich hat. Aus einer heterogenen Gruppe von Einzelspielern unter Wahrung ihrer höchst individuellen Fähigkeiten ein Team zu bilden.
Bestandsschutz fürs industrielle Lernen
Oder, auf ein Praxisbeispiel angewandt: Eine Schul-Strukturreform, wie sie in Rheinland-Pfalz im Duktus "Wir sind die besten und schnellsten" vorexerziert wird, ist keine echte Bildungsreform. (Sie auch ciffis LaborBlog) Sie schiebt die Lerngruppen Haupt- und Realschule nur unter ein Dach, aber sie führt nicht wirklich zusammen. Die Realschule plus, die teilweise den Klassen der alten Realschulen Bestandsschutz gibt, also Hauptschülern de facto den Zuzug nicht erlaubt, begeht eine Menschenrechtsverletzung (Gleiche Bildung für alle). Das ist zugleich ein Bestandsschutz fürs industrielle Lernen. Die Schule wird einer Modernisierungschance beraubt: Mit einem anderen Lernen die individuellen Potenziale aller Schüler heraus zu kitzeln. Oder: Dass man auch in deutschen Schulklassen endlich so individuell zusammenspielen kann wie in spanischen Mannschaften - ohne dass alles von außen durch eine (unpädagogische) Struktur determiniert wird.
Nichts anderes wollte Philipp Lahm nämlich sagen, als er über die strategisch-taktischen Fähigkeiten seiner Trainer herzog. Äh, pardon, wir meinen natürlich Jörg Dräger, den jüngsten und besten Mann, den wir in der Bildung haben. Genauer hatten. All' die wichtigen Sätze über koopetitives Spielen, über Mannschaftsumbau und Taktikwechsel, über individuelle UND kollektive Fähigkeiten kann er nun nicht mehr sagen. Da er zwar nach zehn Jahren zu einer wichtigen Erkenntnis kam – aber gleich in seinem ersten Interview die Freiheit des Denkens wieder einstellte. Schade.
lets talk about - frontloading
In unserer Twitterwolke rund um (neue) Schule und (modernes) Lernen kommt es immer wieder zu, nun ja, kleinen Scharmützeln,
ob und wie sinnvoll Frontalunterricht eigentlich noch ist.
@cervus hat zuletzt heute (Samstag, 6. Feb) eine witzige Bemerkung gemacht über @chrisimwebs diktum, medien seien gut, "um den frontalunterricht effizienter zu machen". (er hat das dann präzisiert, schaut seinen tweet an.)
(Siehe auch die frischen Kommentare hier im Blog. >>>)
Unter der Woche ging es um die Frage, ob man die Schulstruktur ODER den Unterricht ändern müsse. @mccab99 meinte, die Hamburger Debatte über vier oder sechs Jahre Grundschule sei nebensächlich. Pisaversteher fragte sich, wie man Schulstruktur und Lernstil denn voneinander trennen könne:
@mccab99 struktur ist keine hinreichende antwort auf neu lernen @ciffi sagt dazu: aber eine notwendige. solange studienräte abschulen können, ändern sie stil nicht
Mein Vorschlag wäre daher, dass man hier und mit Tweets diskutieren sollte. Vielleicht nehmen wir uns Michael Feltens "Auf die Lehrer kommt es an" als Vorlage. Es wird vom Verlag so angekündigt:
"Die Bildungsdebatte kreist zu sehr um Strukturfragen und Leistungsstandards. Schulerfolg und Chancengerechtigkeit sind aber vor allem eine Frage der Unterrichtsqualität. Angesichts veränderter Kindheiten erweisen sich steuernde Lehrformen der offenen Pädagogik als vielfach überlegen. Gefragt sind heute Führungsfreude, Methodenklarheit und Einfühlsamkeit. (...) Was ist effiziente Klassenführung?"
Ich habe schon mal reingesehen, und habe es jetzt @nklee68 zu rezension für die taz gegeben. Felten, der Lehrer in Köln ist, hat schon mal diesen text für die taz geschrieben. >>> Am Pult kann nur einer stehen
Ich will nicht zu viel vorlegen, aber ich finde: Dieses Buch, dieses Haltung hat im 21. Jahrhundert nichts mehr verloren. its over. Kann man wirklich heute noch so über Schule reden?
Einladung zur Diskussion.
Doku Koalitionsvertrag in Kiel: Wie weiter mit den Gemeinschaftsschulen?
Weniger individuelles Lernen - mehr äußere Differenzierung
Kiel hatte mit der Einführung der Gemeinschaftsschule vor drei Jahren eine neue Marke geschaffen: Lasst uns die KMK-Gesamtschule mit ihren leidigen A-. B-, C-Kursen überwinden. Schwarz-Rot unterstützte aktiv Schulgemeinden, die ein neues Lernen in ihren Unterricht bringen wollen. Das bedeutete die Abkehr von einer frontalen Unterrichtskultur.
Nun ist Schwarz-Rot zuende und Schwarz-Gelb hat sich erneut auf die Fahnen geschrieben, Bildung besonders zu fördern. Es ist allerdings noch nicht klar, was nun werden wird. Der Koalitionsvertrag lässt wenig Gutes hoffen. Das Schulsystem solle in Ruhe gelassen werden.
"Unsere Schulen Zeit und Ruhe, um vernünftig arbeiten zu können",
steht in dem Papier, das pisaversteher hier dokumentiert, damit sich jeder ein Bild machen kann. fuellers bureau neue schule
Eine bildungspolitische Todsünde
Kiel führt die Realschule wieder ein – und die Schulreform ad absurdum
Jetzt ist es also amtlich: Die neue schwarze-gelbe Koalition in Kiel wird die Realschule wieder einführen.
Sie begeht damit eine bildungspolitische Todsünde. Warum?
Nein, es geht nicht darum, dass die Realschule an sich etwas schreckliches wäre. Aber wer eine Schulreform, die keine vier Jahre alt ist, mittendrin abrupt wieder zurückfährt, der hat nicht verstanden, welche Verunsicherung er damit in die Elternschaft träg. Man kann sich auf Bildungspolitik nicht verlassen.
Die CDU in Person von Herrn Carstensen ist eine zutiefst unglaubwürdige Partei. Der Peter Harry ist ein Halodri: Er hat persönlich dafür eingestanden, die schwarz-rote Schulstrukturreform nicht wieder zurückzudrehen. Er hat dieses Versprechen nicht gehalten. Wer soll einem Regierungschef Vertrauen, der sein Amt mit einem Schwindel antritt?
Die großen Schulstrukturreformen in den Niederlanden und Finnland sind selbstverständlich überparteilich beschlossen worden; und man hat sie in den Grundzügen über viele Jahre nicht angetastet. Etwas ähnliches geschah übrigens in Hamburg. Die dortige Strukturreform wurde überparteilich in einer Enquete-Kommission vorbereitet und in ihren Grundzügen beschlossen.
Wieso ist die Wiedereinführung der Realschule in Schleswig-Holstein praktisch ein komplettes Zurückdrehen der Strukturreform? Ganz einfach:
Wenn man in einem dreigliedrigen Schulsystem zwei der Glieder eine Bestandsgarantie gibt, dann konserviert man das ganze System.
Und man schwächt den damit verbundenen Prozeß des neuen Lernens. Individuelles Lernen ist nicht wie Schuhe binden: Es ist etwas Komplexes. Es bedarf der Vorbereitung und des Trainings, wenn man von einem 150-Jahre-alten Frontbeladungsstil weg will – hin zu einem Wahrnehmen und Entwickeln aller Talente, die es in einer Klasse gibt.
Ein FDP-Minister, der sagt: Die Realschule muss wieder her, hat von individuellem Lernen nichts verstanden. Er hat einfach eine andere Priorität.
Nicht das Überwinden der Schulstrukturen des 19. Jahrhunderts, sondern Klientelismus der billigsten Art.
Die neue Regierung in Kiel entzieht der Gemeinschaftsschule nicht nur das Vertrauen, sondern auch das intellektuelle Potenzial, das sie braucht. Pisaversteher meint, das ist das brutale Kalkül, das hinter der schwarz-gelben Logik steckt: Statt Gymnasium, Real- und Hauptschule soll es künftig in Schleswig-Holstein eben Gymnasium, Real- und Gemeinschaftsschule geben.
Die Marke Gemeinschaftschule soll zerstört werden, ehe sie sich etabliert.
Sie soll in den Augen der Bevölkerung zur neuen Hauptschule gemacht werden. Das ist das perfide dieser neuen Schulreform. Sie hat nichts mit Kiel zu tun - sie ist ein parteitaktisches Manöver. Die Gemeinschaftsschule findet Gefallen bei den Menschen. Aber ein rotes Experiment darf den Menschen nicht gefallen, daher geht schwarz-gelb nun mit gestrecktem Bein in die Schulreform.
Die Gemeinschaftsschule ist ein wichtiges Instrument, der gesellschaftlichen Spaltung den Nährboden zu entziehen – indem man allen Kindern gleiche Chancen einräumt. Schwarz-gelb aber will weiter bestimmten Kindern schlechtere Startchancen ins Leben geben.