Schule des Scheiterns
Im ZDF unter "log in" wird Pisaversteher am Mittwoch mit Michael Kretschmer (CDU), Thomas Oppermann (SPD) sowie Arbeiterkind Katja Urbatsch und dem Chef der Phorms-Privatschulen Carsten Breyde diskutieren. Es geht ums Sitzenbleiben - dem Kernstück der deutschen Schule des Scheiterns. Drei Thesen dazu (- und mehr links auf pisaversteher.com). Die Frage heißt, "Produziert unser Schulsystem Verlierer?"
Die Antwort lautet: Ja, und zwar viel zu viele!
1) Sitzenblieben ist Mist.
Was früher nur Reformpädagogen postulierten, sagen heute Schulforscher (sinnlos, unpädagogisch), Ökonomen (teuer) und sogar die Kultusminister, die reihum das Sitzenbleiben lockern oder gar abschaffen. Berlin, Hamburg, Ba-Wü, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen tun es. Selbst Bayern hatte es untersagt (!), dass Gymnasiasten durchfallen, die im letzten Jahrgang G9 waren; weil sie sonst in den G8-Express geplumpst wären.
2) Das Sitzenbleiben abzuschaffen ist leichter gesagt, als getan.
Denn es ist zusammen mit den Noten und dem so genannten Abschulen DAS Wesenselement des gegliederten Schulsystems:
Wenn ich mehrere Schulformen nebeneinander habe, MUSS ich die Schüler sortieren, d.h. ich muss sie benoten, sitzenlassen und abschulen, damit alle Schulformen auch gefüllt werden können. Sitzenbleiben steckt also tief im System - und in unseren Köpfen, meistens sogar positiv besetzt als Ehrenrunde.
Es gibt Leute, die nennen Deutschland das Land der Schulabsteiger. Pisaversteher z.B. in Spiegel Online.
Wie da herauskommen?
3) Sitzenbleiben macht Druck - und nimmt ihn auch
Es gibt Sitzenbleiber, die berichten, dass sie NACH dem Durchfaller weniger Druck verspürt haben. Dazu gibt es Studien, zu denen wir im TV wohl kaum kommen werden, weil sie sehr differenziert sind. tatsächlich fühlen sich manche Kinder erstmal wohler, wenn sie aus der schnelleren Klasse und schnelleren Schule endlich raus sind; aber: sie empfinden das insgesamt dennoch als Niederlage und Demütigung.
Sonderschüler z.B. sehen sich selber als "nicht normal" - obwohl sie sich mit dem Schulabstieg abgefunden haben. So zeigt es eine Studie des WZB.
Ich halte dieses Argument für eines, das aus der inneren Logik des gegliederten Systems heraus geboren wird: Die Schmerzens-Schule lässt erst reihenweise Leut sitzen und macht ihnen Druck – und feiert es dann als Erfolg, wenn Schüler plötzlich mal keine Schmerzen erleiden.
Mehr morgen im ZDF und anschließend im Chat.
Ausbezahlt
Kleine Gebührengeschichte
[aktualisiert: mit Links zu Wendehals Oppermann, unten]
Oder: Die Studiengebühren sind am Ende
Am späten Mittwochabend hatten sich in Bayern mehr als 10 Prozent der Wahlberechtigten für ein Volksbegehren ausgesprochen. Ein Plebsizit, das die Landesregierung auffordert, das Bezahlstudium an den bayerischen Hochschulen abzuschaffen. Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) wird dem Wählerwillen nachgeben, das hatte er bereits vor längerer Zeit angekündigt. Auch das neuerdings rot-grüne regierte Niedersachsen wird die Campusmaut von 1.000 Euro beseitigen. Das bedeutet, dass in ganz Deutschland wieder umsonst studiert werden kann. Das Ende eines 20jährigen erbitterten Streits zwischen Gegnern und Befürwortern.
Die Studiengebühren betrugen 500 Euro je Semester, das entspricht einem monatlichen Studienbeitrag von 83 Euro. Insgesamt sieben Bundesländer verlangten zwischenzeitlich Geld fürs Studieren. Startsignal war paradoxerweise das Verbot von Studiengebühren durch die rot-grüne Bundesregierung, gegen das die Bundesländer Klage erhoben. Im Jahr 2005 hob das Karlsruhe das Verbot des Bezahlstudiums durch ein Bundesgesetz auf. Danach führten, beginnend mit Baden-Württemberg, mehrere unionsgeführte Länder die Gebühren ein.
"Kein negativer Effekt durch Studiengebühren"
Das Hörergeld wurde gegen den scharfen Protest der Studierendenvertretungen erhoben. Allen voran das „Aktionsbündnis gegen Studiengebühren“ beklagte, Gebühren würde insbesondere Arbeiterkinder benachteiligen oder sogar am Studium hindern.
Eine Studie des renommierten „Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung“ zeigte freilich 2011, dass das Bezahlstudium nicht vom Studium abschreckt. „Mit keiner der durchgeführten Analysen kann ein negativer Effekt von Studiengebühren auf die Studierneigung identifiziert werden",
schrieben die Forscher – allerdings glaubte ihnen kaum jemand. Die Studie wurde ignoriert und in den Medien zensiert.
Das erste Bundesland, das bei den Gebühren wieder den Rückwärtsgang einlegen musste, war Hessen. Dort schrieb § 59 der Landesverfassung schon immer vor,
dass „in allen öffentlichen Grund-, Mittel-, höheren und Hochschulen der Unterricht unentgeltlich ist“.
Dennoch hatte der damalige Ministerpräsident Roland Koch (CDU) Studienbeiträge beschließen lassen. Die Gebühren wurden dann aber nur für zwei Semester erhoben. Die kurzzeitige rot-rot-grüne Mehrheit des Landtags schaffte die Gebühren in Hessen im Jahr 2008 wieder ab. Diesem Beispiel folgten dann reihum die Länder Saarland, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hamburg. Nun ist die Abschaffung in Niedersachsen und Bayern dran.
Damit wiederholt sich Geschichte. Deutschland ist seit den 1970er Jahren wieder komplett gebührenfrei - wenn man von der Erhebung von Studienbeiträgen an den Privathochschulen absieht. Witten/Herdecke etwa hat ein selbstverwaltetes Gebührenmodell so genannter nachlaufender Gebühren – dort zahlen die Studierenden erst, wenn sie als Akademiker gutes Geld verdienen. Auch an der Zeppelin-Universität in Baden-Württemberg werden die Gebühren von rund 3.000 Euro vorfinanziert. 60 Prozent der Studierenden erhalten einen Studienkredit durch die örtliche Sparkasse in Ludwigshafen. Sie zahlen den Kredit zurück, sobald sie ihre lukrativen Akademiker-Jobs eingenommen haben.
Uni nur für Akademikerkinder - und umsonst
Die Abschaffung der Studiengebühren kommt die Bundesländer teuer zu stehen. In den großen Flächenstaaten müssen dreistelllige Millionenbeträge im Landeshaushalt aufgebracht werden, um die Einnahmeausfälle der Unis zu kompensieren. Allein in Nordrhein-Westfalen geht es dabei um eine Viertel Milliarde Euro. So viel muss künftig aus dem allgemeinen Steueraufkommen bereit gestellt werden, damit zumeist Akademikerkinder wieder umsonst studieren können. Der Anteil der Arbeiterkinder an den Hochschulen ist, wie das Deutsche Studentenwerk in seinen Sozialerhebungen mit schöner Regelmäßigkeit belegt, verschwindend gering – und zwar auch ohne Gebühren. Von 100 Akademikerkindern landen 83 auf der Uni; von 100 Arbeiterkindern aber nur 11.
Auch in Bayern wird die Abschaffung der Campusmaut Hunderte Millionen kosten. Die Studenten fordern volle Kompensation für die Studiengebühren, "und zwar angepasst an die steigenden Studentenzahlen", sagte der Erlanger Studentenaktivist Stefan Erhardt am Mittwoch der Süddeutschen Zeitung. Solche abstrakten Zahlen lassen sich am Beispiel für die Ludwig-Maximilians-Universität in München sehr konkret ausdrücken: Dort werden allein 300 Tutoren, also studentische Lehrkräfte, aus den Studiengebühren bezahlt. #
Studiengebühren verbaut und verheizt
In der Verwendung der Hörergelder freilich lag von Anfang ein großes Problem des Bezahlstudiums. Mit den Beiträgen der StudentInnen trieben die Unis regelrecht Schindluder: In Bonn sollten für eine halbe Million Euro die Toiletten saniert werden. Einige Hochschulen wie Göttingen oder Dortmund versenkten die Gebühren in ihren Schuldenhaushalt. Die Uni in Ulm plante, mit Hilfe der Campusmaut die Hörsäle zu heizen – daraufhin sammelten die Studenten Brennholz für die Uni.
Der am meisten begangene Fehler lag darin, das Geld der Studierenden in Neubauten zu investieren – obwohl Hochschulbau die originäre (und vernachlässigte) Aufgabe des Staates ist. Zum Beispiel sollte in Passau mit den Gebühren eine Tiefgarage gebaut werden. Nicht nur die Studierenden liefen Sturm dagegen. Die Uni Bochum und das Land Saarbrücken verboten daher schriftlich, Gebührengeld in Baumaßnahmen zu stecken. Aber auch Vorschriften konnten Blödsinn nicht verhindern. Die Uni Osnabrück etwa finanzierte ein Drachenboot aus dem Gebührentopf.
Keine Gebühren - das ist asozial
Ob die Studiengebühren nun ein für allemal vom Tisch sind, lässt sich schwer sagen. Eine schnelle Einführung wird es sicher nicht geben, dafür war der Aufwand für das Gebührenexperiment zu hoch. Die Gebühren waren 1970 als Hörergeld abgeschafft worden waren, sie betrugen damals 150 Deutsche Mark – also inflationsbereinigt in etwa so viel wie Studierende heute an Immatrikulationsgebühren sowie Zwangsbeiträgen für Asta und Studentenwerk aufbringen müssen. Anfang der 1990er Jahre begann angesichts total unterfinanzierter Unis die Debatte um die Wiedereinführung der Gebühren - die dann 15 Jahre dauerte, ehe das Studieren wieder kostete. Die wirkungsvollsten Gebühren-Freunde kamen übrigens aus der SPD. Vorreiter war der legendäre Generalsekretär und Parteiintellektuelle Peter Glotz. "Wieso es ,sozial' sein soll, daß der junge Facharbeiter oder die Verkäuferin die Studienkosten für den gleichaltrigen Medizinersohn bezahlen, bleibt unerfindlich“, sagte Glotz.
Wendehals Oppermann
Ein anderer Sozialdemokrat provozierte seine Partei jahrelang als Wissenschaftsminister mit dem berühmten Satz von Karl Marx, dass unentgeltliche Unis faktisch bedeuteten, „den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel zu bestreiten.“ (Siehe Karl Marx hatte Recht! taz) Der Mann heißt Thomas Oppermann, er forderte die Gerechtigkeitslücke zu schließen – mit Studiengebühren. Heute sitzt Oppermann als parlamentarischer Geschäftsführer im Bundestag und ist selbstverständlich – gegen Studiengebühren.
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Thomas Oppermann hat sich inzwischen per Twitter gemeldet, er meint, die sozialverträgliche Einführung von Studiengebühren sei gescheitert. Zur Sicherheit nochmal, was Oppermann zum Thema Gerechtigkeit 1999 der Welt sagte: "Ich glaube sogar, dass mein Konzept für Studiengebühren eine Gerechtigkeitslücke schließt, die es derzeit gibt."
Fragen an Jesper Juul
Jesper Juul hat ein kleines und zugleich großes Buch geschrieben: "Wem gehören unsere Kinder?"
pisaversteher wird mit dem Familientherapeuten am Dienstag im Berliner Babylon über das Buch sprechen. Karten gibts hier. Das Buch hier.
Wer Fragen an Juul hat, der kann sie gerne als Kommentar auf dieses Blog posten. Oder er twittert mit dem hashtag #juul und @ciffi in der Kennung. Oder er kommt sie einfach selber stellen.
Der Gründer von familylab und Kempler-Institut geht, wie erwartet, hart mit der Krippenpolitik in Deutschland und Europa ins Gericht - denn die Krippen werden für alle möglichen Interessen geschaffen (Staat, Eltern, Wirtschaft), aber nicht für die der Kinder.
Aber Juul findet zugleich Kitas und Krippen "dem familiären Umfeld in keinster Weise überlegen!" sind. (Was bedeutet das fürs Betreuungsgeld?)
Kernthema Juuls ist das Aufheben der Definitionsmacht von Erwachsenen über Kinder.
Überraschenderweise belegt er das mit einem Beispiel von der Benachteiligung von Jungen in Kindertagesstätten:
Erzieherinnen hätten in einer Studie Jungen als "problematisch" bezeichnet - "und das nur, weil sich die Jungen benehmen wie Jungen in Einrichtungen, die von Frauen geführt werden, die sich am Umgang mit netten kleinen Jungen orientieren."
Die Definitionsmacht abzulegen bedeute eine grundsätzlich andere Sicht einzunehmen.
Das sind mE die spannendsten Textstellen im Essay von Jesper Juul, siehe meine Tweets dazu: Jungen benachteiligt. Und: Perspektivwechsel.
Juul...
- Rat für Eltern, die eine Krippe/Kita besichtigen:
"Achte nicht zu sehr auf ihre Flyer, Ideologie oder Lehrpläne - rieche, fühle und erlebe die Atmosphäre."
- zu Regeln
"Ich habe keine Einwände gegen Regeln oder 'Grenzen'... Ein Problem entsteht erst dann, wenn die Regeln und die Einhaltung dieser Regeln von den Erwachsenen als das Eigentliche menschlichen Verhaltens angesehen werden."
- zu Großstadtkindern
"Viel zu viele Großstadtkinder ... haben die Fähigkeit verloren, spielerisch mit ihrer Aufmerksamkeit umzugehen."
- zu Medien
"Die Geschwindigkeit des Daseins ist zu schnell geworden... die extreme Menge an unkontrollierbarem Input sind zu groß."
Schulleitung muss leiten können
Antwort auf maik rieckens reflexionen
hallo maik,
ich habe deinen beitrag über "arbeit an strukturen" gerne gelesen und bin fasziniert darüber, wie detailliert du den prozess der veränderung im käfig der krokodile beschreibst: wer sich nicht rührt, wird belohnt.
die anderen beginnen sich reflexiv selbst zu verdauen, ob sie sich jetzt nur noch um ihre wohlfühlblase (im job oder draußen) oder um den wandel (schulrevolution, schule im aufbruch etc.) kümmern sollen oder ob sie vielleicht einen ermutigenden wandel-vorschuss ins system investieren könnten. darüber wird dann philosophiert, sehr sehr lange.
wir sind bald so weit - in 10 jahren
ich habe mal einen schulleiter getroffen, einen phantastischen mann, der mir sprudelnd vor enthusiasmus von seinen ideen für seine gesamtschule berichtet hat – von denen quasi nichts umgesetzt wurde, wie ich bei einem besuch seiner schule feststellen durfte. ich fragte ihn, wieso es z.B. denn keine 90minuten-”blöcke” gebe, in denen man wenigstens ein bisschen “anders lernen” möglich machen könnte. “das lehnen die kollegen ab, aber jetzt sind wir bald so weit – nach zehn Jahren”, sagte er. und: er guckte nicht sehr froh dabei, er sah sehr traurig aus in seinen endfünfzigern, das halbe schulleben schon hinter sicht habend.
jetzt habe ich die antwort auf deine reflektion und die misserfolgs-ketten deiner schaubilder fast gegeben: wieso gibt es eigentlich keine schulleitung, wieso kann man eine schule nicht führen, wieso können sich kollegInnen selbst klitzekleinsten veränderungen widersetzen? ehrlich, ich werde das nie verstehen, und wir brauchen über vieles nicht diskutieren, wenn das nicht konsens ist:
wir brauchen keine rektorendiktatur, nein, aber schulleitung muss leiten können! Punkt.
wir steuern auf eine, nun ja interessante phase zu, genauer sind wir mittendrin. wenn die lehrer ausgehen (weil du kultusminister unfähig zu ausbildung und bekömmlicher einstellung sind), dann gehen auch die rektoren aus, dann haben wir, verdammt, keine steuerzentren für schulentwicklung mehr. dann stromern 30.000 schulen wie treibgut in den demografischen, technologischen und seelischen wellengängen umher, die uns bevorstehen.
mir ist schon klar, dass man gute schule nicht per ordre de mufti bekommt, weil ein kollegium mindestens so wichtig ist wie der spirit einer guten schulleitung; und wir wissen ja nicht mal, ob die schulleitung gut ist. wie stoppt man denn eine schlechte, taube, tumbe?
aber man muss sich mE vergegenwärtigen: entweder wie kriegen jetzt sehr bald handlungsfähige leitungsorgane hin – oder wir gehen unter. genauer: unsere schulen und damit unser schulsystem. oder glaubt ihr, dass die britsyls und rieckens und larbigs und kalts und raus und lammatinis und schaumburgs und wie sie alle heißen die schulen von unten richten werden, wenn sie erstmal – wie einst die heinrich-von-stephan in berlin – am boden liegt?
merci für den anstoß
best
christian füller
ps. weitere ideen und ausführungen hier:
www.freitag.de/autoren/der-freitag/lasst-die-schulen-los
www.freitag.de/autoren/christian-fueller/das-potenzial-einer-demokratischen-selbstreformschule
Marx wusste es besser: Studiengebühren sind gerecht
Campus-Maut: Wie Bundesländer und Studierende sich von einem, ja, emanzipatorischen Projekt verabschieden
VON CHRISTIAN FÜLLER
Schade eigentlich. Jetzt beginnt auch Bayern, sich aus den Studiengebühren wieder zurück zu ziehen. Ministerpräsident Horst Seehofer hat eine „offene Diskussion“ über das Bezahl-Studium angekündigt. Diese Aktion ist nicht nur Beweis für den Populismus eines Wahlkämpfers. Sie markiert zugleich den Abschied von einem, ja emanzipatorischen Projekt: Studiengebühren sind nämlich nicht, wie gern behauptet, ein Mittel der Ausschließung, sondern im Gegenteil: Sie sind ein Moment des sozialen Ausgleichs – und stärken zugleich demokratische Beteiligung. Jedenfalls können sie es.
Wie das? Das fragt sich LeserIn zurecht. Denn den Eintritt ins Studium mit einem Preis zu versehen, verengt den Zugang zur Hochschule. Weil sich nicht mehr jeder die Uni leisten kann. Das stimmt – aber eben nur auf den ersten, flüchtigen Blick. Die empirischen Daten offenbaren ein anderes Bild: Das Nadelöhr für Arbeiterkinder ist nicht etwa die Campus-Maut, sondern es ist die scharfe Auslese, die von der Schulstruktur ausgeht. Es gibt Studien jeder Methodik und unverdächtiger Herkunft, die das zeigen.
It´s the school, stupid
Der so genannte Bildungstrichter (aus der Sozialerhebung der Studentenwerke) beweist seit vielen Jahren, dass nur 11 bis 14 Prozent der Arbeiterkinder auf Hochschulen kommen, aber satte 83 Prozent der Beamtenkinder. Ursache dafür ist, dass es Eltern der sozialen Herkunftsgruppe „hoch“ gelingt, 85 von 100 Kindern in die gymnasiale Oberstufe zu hieven – und von denen wiederum 95 Prozent auf die Hochschule. Den Eltern der sozialen Herkunftsgruppe „niedrig“ (so heißen Arbeiterfamilien soziologisch heute) bringen nur 36 von 100 Kindern auf die höhere Schule; und von ihnen nur 31 Prozent auf die Uni.
Die Übergangszahlen schwanken geringfügig, aber der Gegensatz zwischen den Studienerfolgen der Ober- und Unterschicht bleibt stabil. Der Bildungstrichter bestätigt damit das Ergebnis jeder einzelnen Pisa-Studie:
Schulische Leistungen und Fortkommen hängen in Deutschland von der sozialen Herkunft ab. Es ist DIE Achillesferse des deutschen Bildungssystems. Oder genauer: Es ist die SCHULE, die vom Studium abhält und nicht etwa die Campus-Maut.
Was passiert nun, wenn Studiengebühren hinzukommen? Auch das weiß man, dank einer Studie des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung in Berlin (die übrigens – auch von dieser Zeitung – konsequent kleingeredet wurde). Danach haben Gebühren keine abschreckende Wirkung. "Mit keiner der durchgeführten Analysen kann ein negativer Effekt von Studiengebühren auf die Studierneigung identifiziert werden", schrieben die Forscher 2011. (1)
Marx über unentgeltliche Unterrichtsanstalten
Es gibt viele weitere Studien etwa der OECD, welche die Vorteile eindrucksvoll belegen, die Akademiker aus ihrem Studium ziehen. Das schlagendste Argument stammt aber vielleicht von Karl Marx. Er notierte 1875 in seiner Kritik am Gothaer Programm der SPD,
„wenn in einigen Staaten höhere Unterrichtsanstalten unentgeltlich sind, so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel zu bestreiten.“ (Marx, 2)
All´die Studien zu zitieren, die das Märchen „Studiengebühren sind die Ursache sozialer Selektion“ fortschreiben, ermüdet freilich. Man muss, um besser zu verstehen, was es mit Gebühren und Gesellschaft auf sich hat, über zwei Dinge sprechen.
- Erstens: Wieso ignoriert die akademische Oberschicht diese Zahlen?
- Zweitens: Wie könnte denn ein intelligentes Studiengebührenmodell aussehen?
Erstens: Es gibt eine Vielzahl von grandiosen Schein-Argumenten gegen Studiengebühren. Der wahre Grund aber, warum Akademiker das Bezahlstudium bekämpfen, ist sehr einfach: Jeder ist sich selbst der nächste. Die Studierten verteidigen ihre Privilegien. Die Kinder der – zugespitzt formuliert – Reichen und Gebildeten bekommen das Studium geschenkt. Das soll so bleiben.
Asta: Nützliche Idioten der Reichen
Das Mantra der Allgemeinen Studentenausschüsse, das in etwa „Studium für alle“ lautet, ist nichts anderes als Propaganda-Schwindel. Studentenvertreter betätigen sich als Lobbyisten ihrer Klasseninteressen – oder als nützliche Idioten der gehobenen Beamten- und Bürgerschichten. Asta-Fritzen kämpfen im Che-Guevara-T-Shirt für ein vermeintlich kostenloses Studium. In Wahrheit aber sind sie die Vorhut reicher Ärzte-, Anwälte- und Redakteurs-Kinder, die Papis Kohle weiter in Skiurlaube statt in die Campus-Maut stecken wollen. So weit so schlecht.
Spannender ist die Frage: Wie kann ein intelligentes Gebührenmodell aussehen? Die taz hat im Jahr 2004 ein solches Modell vorgelegt, und es hätte emanzipatorische Kraft. Warum? Die demokratisch-soziale Lage an den Hochschulen sieht so aus, dass die Bürgerkinder ihr Studium genießen – und sich um Wahlen in die Selbstverwaltungsorgane nicht weiter scheren. Teilweise gehen nur neun Prozent (sic!) zur Wahl, maximal reicht die Wahlbeteiligung bis knapp über 20 Prozent.
Asten komplett abschaffen?!
Die Idee wäre nun diese: Wenn sich die StudentInnen an der Finanzierung der Hochschulen beteiligen, sollen sie das Geld auch selbst verwalten (dürfen). Dann würden die Wahlbeteiligung wahrscheinlich dramatisch steigen – parallel zu dem Interesse daran, ihre Studiengebühren sinnvoll einzusetzen. Immerhin handelt sich dabei, wie die Abschaffung der Gebühren in NRW und Baden-Württemberg zeigte, um dreistellige Millionenbeträge. Eine Steigerung der Wahlbeteiligung an den Unis ist übrigens wichtig. In der CDU wird bereits laut darüber nachgedacht, die studentische Selbstverwaltung an den Hochschulen komplett abzuschaffen – weil sich so wenige dafür interessieren.
NRW: 250 Millionen Euro für Privilegierte
Über all' das würde es sich lohnen nachzudenken. Aber, die politischen Mehrheiten sind anders. Rot-Grüne Landesregierungen haben die Campusmaut nicht etwa zu einem Modell demokratischer Mitbestimmung erweitert, sondern abgeschafft. Eine solche Politik wirkt sich übrigens sofort auf eine progressive Bildungsreform aus – es verunmöglicht sie. Denn wer, wie NRW, 250 Millionen Euro ausgibt, um privilegierten StudentInnen die Campus-Maut zu erstatten, der hat eben kein Geld mehr für benachteiligte Arbeiterkinder in Ruhrgebietsschulen. Mit anderen Worten, das emanzipatorische Projekt „demokratische Studiengebühr“ ist passé, von links bis konservativ. (3)(4)
Wie lange es sich freilich Friseurinnen, Hilfsarbeiter und andere Nicht-Studierte in diesem Land gefallen lassen, dass sie mit ihren Steuern Universitäten bezahlen, die ihre Kinder niemals werden besuchen können, das steht auf einem anderen Blatt.
P.S. Anmerkungen und Ergänzungen zu verschiedenen Aspekten
1) Die WZB-Leute fanden weiter heraus, dass sich interessanterweise gerade Kinder aus sozial benachteiligten Schichten nicht abgeschreckt fühlen durch die Campus-Maut – ganz im Gegenteil. Sie verrechnten den Wert des Studiums mit ihrem künftigen beruflichen Status. Mit anderen Worten: Sie wissen besser als die feinen Pinkel reicher Häuser, dass das Studium sehr wohl eine private Bedeutung hat – und sprechen offen darüber.
Auch die OECD belegt das übrigens eindrucksvoll (Education at a glance 2012): Das Einkommen von Akademikern liegt in Deutschland um 80 Prozent über dem Nicht-Studierter; das ist viel höher als in anderen entwickelten Ländern, wo die Einkommensvorteile nur bei knapp 60 Prozent liegen Die beiden Bochumer Ökonomen und Winter und Pfitzner haben diese Einkommensvorteile jüngst genauer untersucht – und sie empört. Sie sprechen von einer „Studiengebührenlüge“. Und argumentieren konsequent „gegen ein gebührenfreies Studium auf Kosten der Allgemeinheit“. Der Unter-Titel ihres Buches heißt denn auch: „Wie die Republik Bildung vernichtet und die Armen abzockt“.
(2) Das hübsche Marx-Argument samt Zitat hat übrigens der heutige Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Bundestag, Thomas Oppermann, in die Debatte eingeführt. Damals als Wissenschaftsminister in Niedersachsen, wo er genüsslich gegen die SPD-Linie stichelte, das Bezahl-Studium zu verbieten. Es lohnt sich, ihn zu fragen, wie er heute dazu steht. Denn an Oppermann kann man genau studieren, wie sich frühere lustvolle Provokateure sehr brav auf Parteilinie bringen lassen.
(3) Es macht einen in der Tat zornig zu sehen, wie fix die Landesregierung aus NRW, die sich bundesweit als Retter der Beladenen und Benachteiligten geriert, die Studiengebühren abschaffte – obwohl es eine Viertelmilliarde Euro kostet. Zugleich geht die selbe Landesregierung in der Schulpolitik Kompromiss um Kompromiss ein. Wenn jemand studieren will, wie Grüne mit glühend gerechter Rhetorik die eigenen Klientel bedienen, dann muss er sich NRW ansehen. Der Zusammenhang ist ja auch sehr klar: Studiengebühren sind ein schnell einlösbares Wahlgeschenk, das sofort Beifall vom Wahlvolk bringt. Ein radikaler Umbau der Schulen aber hätte die Kinder der Grünen ebenso fix mit Schmuddelkindern in die selbe Schulbank gesetzt. Wer will das schon!
(4) Dass Bayerns Horst Seehofer aus Angst vor einer Volksabstimmung aus den Gebühren flieht ist eine traurige Ironie der Geschichte: Ausgerechnet in Bayern, wo sich wenige Abiturienten und Studierende vielen Jugendlichen gegenüber stehen, die kein Recht aufs Studium haben, sollte eine Volksabstimmung das Gebührenfrei-Privileg wieder einführen?