04.05.2010
21:45

Abschied von den Patriarchen: Die Reformpädagogik emanzipiert sich

Blick über den Zaun blickt in den Abgrund

Der "Blick über den Zaun" (BÜZ) ist der moderne reformpädagogische Think Tank der Republik. Rund 100 Schulen, die man getrost als die besten der Republik bezeichnen kann, in Wettbewerb und Kooperation um die beste Pädagogik.

Dennoch hat der Blick über den Zaun gerade den Blick in den Abgrund gewagt: Beim ersten Treffen seit dem Skandal um den Ex-Leiter der Odenwaldschule Gerold Becker wollte die Führung des BÜZ das Thema von der Tagesordnung fernhalten - eine absurde Idee, der die BÜZ-Mitglieder einen Strich durch die Rechnung machten. (Siehe auch taz)

Am Ende diskutierten die Reformschulen heftig und scharf über den Odenwaldpuff, zu dem sich die einst wichtigste deutsche Reformschule unter Gerold Becker offenbar entwickelt hatte. Im Odenwald war es, in einigen Familien, scheinbar normal, dass sich Lehrer von ihren Schülern befriedigen ließen.

Die BÜZ-Mitglieder verabschiedeten eine Bensberger Erklärung (siehe Auszüge unten), in der sie Vorgänge im Odenwald vor 25 Jahren erfreulich scharf kritisierten. Wie zweischneidig es dennoch war, lässt sich vor allem an zwei kleinen Momentaufnahemn zeigen.

Zunächst bezog sich die hohe Bremer Bildungsbeamtin Cornelia von Ilsemann positiv auf Gerold Becker, weil er bei der Konzeption der neuen Bremer Bildungspolitik mitgemacht hatte. Dem pädagogischen Leiter der Odenwaldschule, Uwe Koltzsch, verschlug es die Sprache: 

Wir empfinden es als Unerträglichkeit, wenn man Gerold Becker immer noch als wichtigen Repräsentanten der Reformpädagogik zitiert.“ 

Man fragt sich: Wie kann eine so kluge Frau in einem so differenzierten Vortrag Gerold Becker zitieren - ohne ein einziges Wort der Einordnung?

Bei der Verabschiedung der Erklärung dann ein weiterer Schreckmoment. Einer der BÜZ-Teilnehmer meldet sich und plädiert dafür, einen Satz aus der Erklärung ersatzlos zu streichen. Er lautet:

„Falsch verstandene Kollegialität darf und wird uns daran nicht hindern.“ Woran? Übergriffen vorzubeugen und Gewalt aufzuklären. 

Das BÜZ-Plenum wehrte das Ansinnen glücklicherweise ab. Aber es ist interessant nachzusehen: Was bedeutete denn dieses Ansinnen? Der Satz in der Erklärung heißt übersetzt so: 

Wenn wieder so etwas vorkommt wie im Odenwald, dann ist es nicht mehr wichtig, wie toll oder berühmt der Lehrer und der Rektor sind, dann helfen wir Euch Schülern!  

Diesen Satz wollte jemand streichen. Vier Wochen, nachdem aus dem Odenwald so ungeheuerliches berichtet wurde.

Dass der BÜZ die Bensberger Erklärung zustande brachte ist enorm wichtig.

Dass es solche Einwände dagegen gibt, lässt einen schaudern.

Die Erklärung in Kurzform:

Blick in den Abgrund

Die Reformschulen „Blick über den Zaun“ verurteilen die sexuelle Gewalt in ihrer Gründungsschule im Odenwald. „Wir sind erschüttert und beschämt darüber, dass Kindern und Jugendlichen sexuelle Gewalt auch in Schulen widerfahren ist, die sich auf unsere pädagogischen Prinzipien verpflichtet haben.“ Sie versprechen, Übergriffen vorzubeugen und Gewalt aufzuklären – ohne Rücksicht. „Falsch verstandene Kollegialität darf und wird uns daran nicht hindern.“ Der Versuch, diesen Satz ersatzlos zu streichen, wurde abgelehnt.

Der „Blick über den Zaun“ ist ein Netzwerk von rund 100 Reformschulen, die sich reformpädagogischen Prinzipien verpflichtet fühlen. Dazu zählt die Abkehr vom Frontalunterricht, der Kinder überfordert oder langweilt. Die Praxis, das Kind zum Subjekt seines Lernprozesses zu machen. Und die Idee einer demokratischen Schule. Die Schulen bekennen sich dazu in ihrer Bensberger Erklärung dazu, diese Prinzipien „immer wieder in ihren Schulen zu thematisieren und im Alltag zu verankern. Wir werden mit vermehrter Aufmerksamkeit auf mögliche Verletzungen achten, Kinder und Jugendliche stärken.“

02.05.2010
10:33

Austern vertreiben keine Neonazis

 

Die Mai-Demo der Neonazis in Berlin war eine Niederlage der Zivilgesellschaft

Wenn die Neonazis bei ihrer Mai-“Demonstration“ in Berlin nur 800 Meter weit kommen, dann sieht das auf den ersten Blick wie ein Sieg der Zivilgesellschaft aus. Dieser Blick aber trügt. Die Ankündigung der Autonomen Nationalisten und der NPD, am Rande des Szenekiezes Prenzlauer Berg zu demonstrieren, hat die zivile Gesellschaft in Wahrheit im Mark getroffen. Der Berg war demokratisch nicht gerüstet für den Nazi-Aufmarsch. Im Kiez selbst war an Vorbereitung auf die Demo praktisch nichts gelaufen, was Bürger, Geschäftsleute, Vereine und Schulen einbezogen hätte.

Wer am 1. Mai auf den beiden wichtigen Kundgebungsorten, an den S-Bahnhöfen Prenzlauer und Schönhauser Allee, auftauchte, sah sich einem unorganisierten Gewirr ohne jeden Haltepunkt gegenüber. Einsame Veranstalter, die vorher getönt hatten, es brauche 10.000 Berliner, standen gottverlassen herum. Sie wussten nicht Bescheid. Dass der mürrische Polizei-Einsatzleiter aus dem Schwäbischen keine Ahnung hat, wo sich der Versammlungsort befindet – geschenkt.

Aber dass sowohl die örtlichen Grünen als auch das vermeintliche breite Bündnis ihre eigenen Kundgebungsplätze nicht bereitet haben, sagt viel über die vergeigten Tage und Wochen vor der Demo aus: Hier waren keine Vereine, keine Würstchenbude und keine Hüpfburg für Kinder. Also rannten die Pankower wie aufgescheuchte Hühner durch ihren eigenen Kiez und suchten das, was es dringend gebraucht hätte: Einen zentralen Kundgebungsort und ein großes Bürgerfest, der den Autonomen und Sitzblockierern an vorderster Front zeigt: Ihr seid nicht allein.

In Dresden und Jena konnte man in den letzten Jahren beobachten, wie mühsam und doch erfolgreich der Aufbau ziviler anti-faschistischer Strukturen ist. Dort haben sich die junge schwarze Anti-Fa und das Bürgertum zusammengerauft. Rund um Kristallisationspersonen wie Bürgermeister, Theater- und Geschäftsleute, Schulleiter und Uni-Präsidenten organisieren sich zivile Netzwerke. In Dresden gab es richtige Seminare, damit die Bürger kapieren, dass sie ohne die Anti-Fa den militanten Knobelbecher-Nazis nicht widerstehen können – und die Autonomen anerkennen, dass sie ohne die bürgerliche Ü-30-Anti-Fa viel schwächer sind.

Warum kam es in Berlin nicht zur echten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den Nazis? Weil sich in Berlin und besonders im Prenzlauer Berg zwei Gruppen unvermittelt gegenüberstehen. Auf der einen Seite die Demo-Superexperten der Parteien, die sekundiert von den Kriegsberichterstattern der lokalen Medien Tagesspiegel, Berliner und taz kundig über Schuhgröße, Zahl und Taktik der Neonazis zu räsonieren wissen; sie weisen generalstabsmäßige Lagekarten aus – tragen aber wenig zur demokratischen Selbstverstärkung der zivilen und bürgerlichen Kräfte bei. Und auf der anderen Seite ein arrogant-lässiges Szenebürgertum, das am Kollwitzplatz Austern schlürft. Es besteht darauf, dass dienstbare Geister von Polizei und Justiz das „Nazi-Gesockse“ vertreiben oder verbieten sollten – und die Anti-Fa gleich mit.

Aber Austern vertreiben eben keine Nazis. So funktioniert Demokratie nicht. Wer nicht möchte, dass Neonazis die liberale Gesellschaft samt ihrer angenehmen Errungenschaften kaputttrampeln, der muss sich verständigen. Und das, bitteschön, nicht zwei Tage vor der Demo.

19.04.2010
09:15

"Wer hat ihre Seelen geraubt?"

Michael Wesch, der Anthropologe des Web2.0, über das neue Lernen und welche Rolle der Computer dabei spielt

INTERVIEW SEBASTIAN HIRSCH/@cervus

 

Michael Wesch, sind Computer die Zukunft des Lernens?

Michael Wesch: Ja, ich glaube sogar, dass wir sie irgendwannn direkt an den Kopf anschließen. Kleine Memorysticks, die für uns die Fakten verwalten.

Das ist jetzt nicht ihr Ernst.

Klar nicht. Wir beginnen eben erst zu verstehen, was Computer alles besser können. Wir sollten also aufhören, uns mit dem Zeug aufzuhalten, was die einfach besser drauf haben.

Was ist das?

Zum Beispiel vergeuden wir so viel Zeit damit, unseren Studenten zum Auswendiglernen zu bringen. Und hinterher fragen wir diese Informationen in Examen wieder ab. Das muss doch aufhören!

Aber Fakten sind wichtig.

Ja, klar, man braucht sie. Nur sollten Studenten keine Fakten büffeln, sondern bedeutungsvolle Zusammenhänge herstellen können. Sie sollen Gesetzmäßigkeiten und Strukturen erkennen.

Das Erkennen und Lesen von Zusammenhängen ist die einzigartige Fähigkeit des Menschen. Sie zu stärken, ist die Aufgabe von Bildung.

Wie machen Sie das?

Wir versuchen Studenten nicht als Informationsapparate zu benutzen. Ihre Fragen und ihre Sicht auf die Dinge sind wichtiger als der Vortrag des Dozenten.

Ist das eine Art Anti-Lehre?

Man könnte es „Lehren als eine subversive Tätigkeit“ nennen. Das ist nicht von mir, sondern der Titel eines Buchs von Neil Postman und Charles Weingartner. Ich lese es zweimal im Jahr, um mir neue Energie zu holen für die Frage, worum es an der Uni eigentlich geht.

Im Klappentext steht, das Buch sei ein Anschlag auf abgelaufene Lehrmethoden. Und ein Vorschlag, wie man Bildung für die Welt von heute wieder bedeutsam machen kann.

Und die haben das vor 40 Jahren geschrieben! Die haben schon damals gewusst, dass es gar keine neue Idee ist, wie man anders lernt. Wir es können es um uns herum schon sehen.

Was passiert da draußen?

Es ist faszinierend, wie viele informelle Lerngelegenheiten rund um echte Probleme im wahren Leben stattfinden. Wir sollten keine Zeit im Seminarraum vergeuden, wenn wir die Chance haben, echte Probleme des Lebens zu thematisieren.

Ein Problem provoziert uns, es motiviert und zwingt uns, anders zu denken, neues Wissen zu testen, andere Wege zu gehen. In den Institutionen von Bildung und Wissen finden sie das kaum.

Warum hat sich an den Unis und Schulen im Umgang mit Wissen so wenig verändert?

Ein einfaches Umschalten ist nicht möglich, weil das System des Lernens große Trägheitsmomente in sich trägt. Das beginnt bei den physikalischen Strukturen. Die Lehrgebäude der Hochschulen und die Klassenzimmer diktieren uns, wie wir Sachen lehren und lernen. Dazu kommt die Bürokratie. Dozenten haben bestimmte Aufgaben, sie müssen Lehrpläne befolgen. Es ist nicht einfach, das alles neu zu organisieren. Am schwierigsten aber ist es, unsere Vorstellung, wie Lernen abläuft, zu verändern.

Wo ist das Problem?

Es ist diese grundlegende und falsche Vorstellung von Lehrern: Wie kriege ich mein Wissen in Deinen Kopf? Ein Konzept, das Totenstille verursachen kann.

Das müssen sie erklären.

Nichts nimmt mir so den Wind aus den Segeln wie der erste Vorlesungstag. Man kommt in den vollen Hörsaal. Man kann sein eigenes Wort kaum verstehen, weil alle aufgeregt miteinander reden und voller Energie sind. Aber plötzlich hat man absolutes Schweigen. In dem Moment, an dem ich ans Pult trete, ist es absolut still.

Das ist doch beeindruckend.

Ja, aber ich frage mich in dem Moment auch:

Was hat ihre Seelen geraubt? Was diszipliniert sie derart, dass ein kleines Männlein wie ich sie verstummen lässt? Wer hat ihnen das angetan?

Ich sehne mich nach dem Tag, an dem sie das nicht mehr zulassen, dass sie verwirrt sind, wenn ich ans Pult trete. Das wäre großartig. Aber wir sind noch nicht soweit. 

Was ist daran so falsch, wenn Studenten über ihr Wissen staunen?

Wissen zu vermitteln – das ist eine ziemlich niedrige und primitive Version von dem, was Lernen eigentlich sein könnte. Die wirklich großen Momente des Lernens haben nichts mit Memorieren, sondern mit Transformieren zu tun.

Aha.

Jeder aktive Prozess des Lernens geht mit der Zerstörung von Vorstellungen einher.

Wenn du wirklich etwas neues lernst, dann musst du die Mauern deiner bisherigen Gedankengebäude einreißen. Alles, von dem du bisher dachtest, es sei richtig.

Das alles muss in ein neues Modell übersetzt werden.

Wie geht das? Konfrontieren Sie ihre Studenten mit neuen Technologien – oder setzen sie unter die Urmenschen in Papau-Neuguinea?

Ja, das würde ich am liebsten machen! Aber im Ernst, Transformation ist eine gefährliche Sache. Und das macht es nicht gerade einfach, sie ins Seminar zu bringen.

Warum gefährlich?

Ich habe die Angst, die Vorstellung der Studenten zerstrümmert zu haben – und das Seminar ist zu ende. Wir haben ja nur 15 Wochen pro Semester.

Gibt es keinen Weg, die 15 Wochen-Frist auszutricksen?

Man kann es versuchen, ja, zum Beispiel mit Technologie. Sie hilft uns, Situationen zu kreieren, in denen informelles Lernen stattfindet – das es überall gibt und das keinerlei Grenzen kennt. Das ist das gute an informellen Lernsituationen und Technologien. Superspannend, nur weit außerhalb unserer eingeübten Tagesabläufe und Lernroutinen. Aber wir werden nunmal dafür bezahlt, im herkömmlichen Apparat zu arbeiten – und nicht in den informellen Strukturen außerhalb des Systems.

Technik ist was feines – aber was ändern sie innerhalb des Systems?

Wir experimentieren gerade damit, wie sich Studenten untereinander die Noten geben. Das klingt für viele Professorenkollegen sehr negativ. Ich finde, wir mobilisieren die Schwarmintelligenz fürs Notengeben.

Was meinen Sie damit?

Sich gegenseitig zu benoten, hat viele positive Effekte.

Zum Beispiel?

Sie müssen die Arbeit des anderen wertschätzen. Die Studenten teilen sich viel mehr mit, sie arbeiten härter und genauer. Denn sie müssen, wenn sie eine Note geben sollen, über viele Sachen nachdenken – genau über die Sachen, von denen wir wollen, dass sie sie reflektieren. #

Und das funktioniert? Sind die Noten denn gerecht?

26 von 200 Kommilitonen fühlten sich nicht korrekt benotet. Die habe ich nachkorrigiert, drei habe ich verbessert. Aber um die Ziffer der Note geht es gar nicht. Wichtig waren die neuen Lernprozesse, die plötzlich in Gang gesetzt wurden – und die Fehler. 

Was ist schief gelaufen?

Es wurden Noten mit ganz falschen Begründungen vergeben. Daraus haben wir paradoxerweise am meisten gelernt. 

Wie das?

Die Studenten haben gemerkt, das sie jeden im Seminar auf ein bestimmtes Niveau bringen müssen.

Sonst kapiert der andere Student ihre eigene Arbeit womöglich nicht – und gibt ihnen möglicherweise eine schlechte Note. Jeder muss also in die Lage versetzt werden, den Essay eines Kommilitonen einschätzen und bewerten zu können. 

Warum ist ihnen das so wichtig?

Wir versuchen, dass keiner hinten runter fällt, sondern in die Welt hinausgeht als einer, der etwas kann. Das ist ein anderer Versuch, in der Klasse so etwas wie Gesellschaft, wie Realität herzustellen.

Ist das Seminar sonst nicht real?

Unter Uni-Dozenten gibt es so einen Spruch von der „echten“ Welt. Dass die überall ist – bloß eben nicht im Seminarraum. Das ist doch bizarr! Und ein perfektes Beispiel dafür, wie sehr wir uns in unseren Lehrgebäuden vom wahren Leben da draußen abgekoppelt haben.

Kann man an Redenwendungen die Fehler der Uni festmachen?

Ja, nehmen sie ein anderes Klischee. Dozenten oder Lehrer sagen gerne, sie gehen jetzt in ihre Klasse. Gerade so als gehörte sie ihnen, als wäre es ihr privates Eigentum.

Was ist daran schlimm?

Das Seminar ist überhaupt nicht privat, ganz im Gegenteil. Wir haben im Seminar oder im Klassenzimmer das ganz besondere eines gemeinsamen geteilten Raums. Das ist ein Segen und etwas Großartiges. Wir sollten wahrnehmen, welche Kreativität in diesem Raum steckt – und sollten nicht die Tür zumachen und denen jetzt irgendwelche Inhalte verfüttern.

Wie kann man das tun?

Eine meiner Kolleginnen sagt sich: 'Okay, da gibt es einen bestimmten Korpus von Wissen, den muss ich vermitteln - aber warum sollte ich die wertvolle Zeit im Seminar dafür vergeuden?' Also stellt sie ihre Vorlesung online und nutzt die Zeit in der Klasse ausschließlich für das, wozu sie ideal ist: Um Ideen zu teilen, mit jedem zu teilen, der da drin ist. Das heißt die Studenten konsumieren nicht mehr. Sie sind die Experten, sie sind unser kreativstes Gut. Und wir wollen was von denen!

Aber wir hören doch seit Jahrzehnten, dass wir uns gar nicht mehr im Seminar zu treffen brauchen, weil es Chat oder Videokonferenz gibt.

Nein, die Qualität des face-to-face-Gesprächs ist online oder technologisch noch nicht nachgemacht worden – bis heute jedenfalls nicht. Mal sehen, was noch kommt. Wir müssen den Seminarraum erst wieder neu verstehen. Die physische Realität von Angesicht zu Angesicht jetzt Ideen auszutauschen ist unvergleichlich.

14.04.2010
12:32

Vera muss leben, Vera muss sterben

Dokumentation: Der verkorkste Vergleichstest

 

 

 

pisaversteher liefert ein Dokument des kollektiven Scheiterns deutscher Schule. VERA (Vergleichsarbeiten in der Grundschule) ist eine essenzielle Methode, um herauszufinden, warum es in welchen Schulen schief läuft. Doch dieser Vera-Vergleichstest wird nun von allen Seiten kaputt gemacht. Er verfehlt seine Ziele, weil das IQB ihn viel zu schwer und zu lang konzipiert hat, weil er von den Schulverwaltungen fürs Notengeben missbraucht wird und weil ihn weder Eltern noch Lehrer als das verstehen, was er sein soll: Eine Hilfe im Kampf gegen Bildungsarmut und -ungleichheit.

Die Initiative wird mit dem Brief, wenn er Erfolg hat, das Gegenteil von dem erreichen, um was es ihr geht: Die Schulen werden, wenn sie von Vera einmal abgekoppelt sind, als Schulen der Hoffnungslosigkeit dahin dämmern.

Initiative „Grundschulen im sozialen Brennpunkt“

Offener Brief an Senator  Prof. Dr. Zöllner

Sehr geehrter Herr Dr. Zöllner,

wir sind Lehrerinnen und Lehrer an Grundschulen in sozialen Brennpunkten in Mitte, Tempelhof-Schöneberg, Neukölln und Kreuzberg-Friedrichshain. Unsere Schüler/innen kommen zu 70 % bis 90% aus Familien mit Migrations­hintergrund und sozial benachteiligten Elternhäusern. In den vergangenen Jahren haben wir in unseren Klassen mehrfach die Vergleichs­arbeiten in Deutsch und Mathematik durchgeführt und sind nach ausführlicher Analyse und Diskussion zu dem Schluss gekommen, dass wir eine weitere Durch­führung von VERA aus folgenden Gründen ablehnen:

 

·         Ein Großteil unserer Schüler/innen liegt aufgrund ihres sozialen Hintergrunds und der sprachlichen Probleme erheblich hinter dem Leistungss­tand von Schüler/innen aus normal geförderten Mittelstands­familien zurück, an denen sich jedoch die Vergleichsarbeiten orientieren. Besonders in der Schulan­fangsphase besteht daher der größte Teil unserer Arbeit darin, die großen Entwicklungsrückstände der Kinder im sprachlichen, motorischen und sozialen Bereich aufzuarbeiten. Gleichbehandlung bei unterschiedlichen Voraus­setzungen ist  aber auch eine Form der Diskriminierung.

 

·         Unsere Schüler/innen können die Texte und Fragen der Deutscharbeiten in der vorgegebenen Zeit nicht oder nur unvollständig durch­dringen, weil sie viele unbekannte Begriffe enthalten, Verständnisfragen der Kinder aber nicht beantwortet werden dürfen.

 

·         Wir stellen fest, dass die meisten der  Mathematikaufgaben für unsere Schüler/innen nicht lösbar sind, weil sie die Texte nicht verstehen und weil manche Themen noch nicht behandelt werden konnten.

 

·         Wir lehnen ein Testverfahren ab, in dem Kinder entgegen allem pädagogischen Sachverstand mit für sie unlösbaren Aufgaben konfrontiert und allein gelassen werden, weil im Verfahren eine Hilfestellung sowie Kooperation der Schüler/innen untereinander ausgeschlossen werden. Zudem werden aufgrund des teilweise undifferen­zierten Auswertungsverfahrens reale Leistungen der Kinder nicht berücksichtigt.

 

·         Damit steht VERA im Widerspruch zu den auch im Rahmen der Schulinspektion überprüften Maßstäben an Schulqualität, die sich u.a. in Umfang und Art der Kommunikation innerhalb der Lerngruppe, der Kooperationsfähigkeit beim Finden und Reflektieren von Lösungswegen und dem Grundsatz der erfüllbaren Leistungsanforderung ausdrücken.

 

·         Das Testverfahren ist ungeeignet den individuellen Lernzuwachs unserer Schüler festzustellen und stellt für uns Lehrer/innen keinerlei Hilfe für die Förderung der Kinder dar.

 

·         Die  weitere Durchführung von VERA – aller Kritik zum Trotz –  erweckt den Eindruck, dass unsere Situation von den Verantwort­lichen in der Senatsbildungsverwaltung nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen wird. Denn aus den dramatisch schlechten Ergebnissen in den Brennpunktschulen folgte bisher nichts! Es gibt weder mehr Lehrerstunden für eine intensive Förderung noch Zusatzstunden für kleinere Lerngruppen. Und wenn Schulen eigen­verantwortlich kleine Klassen einrichten, dann müssen sie das auf Kosten anderer notwendiger Hilfen tun.

 

Aus diesem Grund wenden wir uns mit Entschiedenheit  gegen die erneute Durchführung  der Vergleichsarbeiten, die in diesem Jahr am 28. April, 4. sowie 6. Mai vorgesehen ist, und fordern die Abschaffung dieses Testverfahrens!

 Schulen im sozialen Brennpunkt brauchen keine Vergleichs­arbeiten, sie brauchen

deutlich kleinere Klassen und viel mehr Unterstützung für die individuelle Förderung,

eine Erhöhung der DaZ-Stunden und nicht deren Kürzung durch Umverteilung,

mehr Sozialarbeite­r/innen und Psychologen/innen an den Schulen,

* Erzieher/innen und Lehrer/innen mit Migrationshintergrund!

 

V.i.S.d.P.: Jürgen Schulte, Rambowstr. 30 12359 Berlin

13.04.2010
08:17

Das Seminar als Technologie

Michael Wesch im Gespräch mit @cervus über virtuell und real:

@cervus: Was ist ein reales Seminar?

Michael Wesch: Ich weiß nicht, ob Ihr in Deutschland das auch so sagt? Unter Universitätsdozenten gibt es so einen Spruch von der „echten“ Welt. Dass die überall ist – bloß eben nicht im Seminarraum. Das ist doch bizarr! Wir haben da also einen Ort, der speziell für das Lernen da ist – und der ist eben nicht die echte Welt. Das ist ein perfektes Beispiel dafür, wie sehr wir uns in unseren Lehrgebäuden vom wahren Leben da draußen abgekoppelt haben.

Kann man an einer Redewendung den Fehler der Uni festmachen?

Ja, ich gebe ihnen ein anderes Beispiel, wo man aus einem Klischee ganz viel über unser Lernen verstehen kann. Dozenten oder Lehrer sagen gerne, sie gehen jetzt in ihre Klasse. Gerade so als gehörte sie ihnen, als wäre es ihr privates Eigentum. Darin zeigt sich ein großes Missverständnis, den das Seminar ist überhaupt nicht privat, ganz im Gegenteil. Wir haben im Seminar oder im Klassenzimmer das ganz besondere eines gemeinsamen geteilten Raums. Das ist ein Segen und etwas Großartiges. Wir sollten wahrnehmen, welche Möglichkeiten, welche Kreativität in diesem Raum steckt – und sollten nicht die Tür zumachen und denen jetzt irgendwelche Inhalte verfüttern. Wir müssen diese Möglichkeit erst wieder erkennen!

Wie kann man das tun?

Eine meiner Kolleginnen macht etwas besonderes. Sie sagte sich, da gibt es einen bestimmten Korpus von Wissen, den ich vermittteln muss – und das geht nur durch eine Vorlesung. Okay. Aber warum, so fragte sie, sollte ich dafür die wertvolle Zeit im Seminar dafür vergeuden, wenn die das doch genauso gut online anschauen können? Also nutzt sie die Zeit in der Klasse ausschließlich für das, wozu sie ideal ist: Um Ideen zu teilen, mit jedem zu teilen, der da drin ist. Das heißt die Studenten setzen sich nicht einfach rein, um etwas zu konsumieren. Sie sind die Experten, sie sind unser kreativstes Gut. Wir wollen was von denen!

Wir müssen den Seminarraum/Klassenraum wieder neu verstehen. Er ist die Methode überhaupt, um sich auszutauschen.

Diese physische Realität von Angesicht zu Angesicht JETZT Ideen zu diskutieren und auszutauschen ist unvergleichlich.

Das ist in dieser Qualität online oder technologisch nicht nachgemacht worden – bis heute jedenfalls nicht, mal sehen, was noch kommt. Die beste Technologie dafür ist also der Seminarraum. Aber er ist vielleicht nicht die beste Technologie, um Informationen linear oder narrativ zu überbringen. Das geht online sogar besser. Das nehme ich auf meinen iPod und höre mir das an, wenn mich niemand stört. Das heißt, wir beginnen die richtigen Technoloigien für die richten Sache zu benutzen. Jede Kommuniaktion hat ihr ideales Medium.

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