01.04.2010
19:17

Das Missverständnis von Maria M.

Maria Montessori war den italienischen Faschisten viel näher, als ihre Anhänger wahr haben wollen. Dass ihre Pädagogik trotzdem noch so aktuell ist, sagt viel über die Schulen von heute aus 

 

Im Jahr 1924 geht bei Benito Mussolini, dem Duce der italienischen Faschisten, ein Brief ein. Darin wird er um ein privates Treffen gebeten. Ziel ist es, den Schulen des faschistischen Italiens eine revolutionär neue Erziehungsmethode zu geben. Der Brief endet mit „faschistischen Grüßen“ - und ist unterzeichnet mit einem schon damals klingenden Namen: Maria Montessori.

Montessori ist die Erfinderin der weltweit stärksten Alternativschulbewegung, der Montessori-Pädagogik. Allein in Deutschland gibt es 400 Schulen, die sich an den Ideen der italienischen Ärztin und Pädagogin orientieren. Sollte sie enger mit den italienischen Faschisten zusammengearbeitet haben, als ihre Anhänger glauben wollen? Kommt nach den Landerziehungsheimen nun die zweite reformpädagogische Strömung ins Gerede?

Mancher kritische Forscher wie etwa die Hildesheimer Erziehungswissenschaftlerin Meike Sophia Baader fürchten: Bei Montessori wird es noch schlimmer!

Tatsächlich war Montessori den Faschisten Mussolinis viel näher, als sich das die Fans der berühmtesten Pädagogin Italiens eingestehen. Sie hat jahrelang mit dem Regime zusammengearbeitet, sie war Ehrenmitglied der Partei. Ja, Montessori hat sogar ihre wissenschaftliche Pädagogik angepasst, damit sie auch in einem autoritären, nationalrevolutionären System wie dem Mussolinis funktioniert.

„Maria Montessori hat aktiv und solange es eben ging für die politische Akzeptanz ihrer angeblich neutralen Methode bei den Faschisten gesorgt“,

schreibt der renommierte Züricher Erziehungswissenschaftler, Jürgen Oelkers.

Die Argumente der Montessori-Anhänger, es handle sich um Zufallsbegegungen, sind unhaltbar. Als der Duce die Ehrenpräsidentschaft der Montessori-Gesellschaft übernimmt, dankt sie ihm überschwenglich, dass er mit „genialer Voraussicht“ und mit „dem Geist aufrichtiger Liebe“ die Montessori-Pädagogik fördere. Distanz sieht anders aus.

Das bittere für die gegenwärtige Diskussion ist dieses: Die engen Verflechtungen Montessoris mit den Faschisten sind ähnlich lange bekannt wie der Missbrauch des Reformpädagogen Gerold Becker an der Odenwaldschule. Im Jahr 2001 zeigte die Niederländerin Hélène Leenders (Der Fall Montessori), wie gut Montessoris Vorstellungen zur Neuen-Mensch-Rhetorik der Faschisten passten.

Montessori-Mussolini - keine bizarre Koalition

Beim 100jährigen Jubiläum der ersten Montessori-Schule 2007 jedoch war in den Lobeshymnen der Zeitungen davon nicht die Rede. Die angesehene Wochenzeitung Die Zeit etwa schrieb von einer „bizarren Koalition“ zwischen der freiheitsliebenden Montessori und dem grausigen Führer. Dabei lag diese Koalition im Gegenteil sehr nahe. 

Denn die Wortwahl in Montessoris Werk passt wie der Schlüssel zum Schloß eines Regimes, das eine neue Politik für neue Menschen kreieren will: Montessori schreibt etwa vom „uomo medio“, einem Menschen, der befreit wird von seinen wilden Bedürfnissen. Ihre Pädagogik schaffe es, so sagte die weltberühmte Ärztin, aus der kruden Fassung des Menschen „eine Supra-Natur zu bauen, die fantastisch reicher ist das, was wir gegenwärtig die 'wilde Natur nennen''. 

Montessori schrieb:

„Alles am Menschen ist verkehrt, und alles muss von vorn begonnen werden; und dazu führt nur ein Weg, die Rückkehr zu den Quellen der schöpferischen Energien."

Wie soll das gehen? Montessori fasste die Effekte ihrer Pädagogik in „Kinder sind anders“ so zusammen:

„Eine geeignete Umgebung, eine demütige Lehrperson und wissenschaftliches Material – das waren die drei wichtigsten äußeren Gegebenheiten. (...) Dann erscheint das wahre Kind: vor Freude strahlend in unermüdlicher Tätigkeit begriffen (…) Eifrig nimmt es alles in sich auf, was der Entwicklung seines Denkens förderlich ist. Hingegen weist es andere Dinge zurück: Belohnung, Süßigkeiten, Spielsachen.“ 

Allerdings ist Montessori selbst keine Faschistin. Ihre Biografen registrieren, dass sie Mussolini benutzen wollte, um ihre missionarische Pädagogik weltweit verbreiten zu können. In dem Moment, da die Faschisten zu sehr in ihr Werk eingriffen, zog sie sich sofort zurück. Und, das bringen ihre Anhänger stets vor: Montessoris Schulen wurden sowohl in Nazideutschland als auch in Italien Mitte der 1930er Jahre geschlossen. Sie verließ das Land und kehrte erst 1947 nach Italien zurück.

Montessorianismus

Sofort nach ihrer Rückkehr ist auch der Starkult um sie wieder da. Forscher wie ihr Landsmann Giuseppe d´Arcais nennen das den „Montessorianismus“:

„Ich habe Begegnungen von MontessorianerInnen erlebt, die mir wie ein neues Pfingsten vorkamen, bei dem freilich nicht der heilige Geist, wohl aber der Geist der 'Dottoressa' in Gestalt von Feuerzungen herniederkam und die pädagogischen Herzen in helle Glut und eiferndes Engagement versetzte. Diese Erscheinung des 'Montessorianismus' ist deshalb … so bemerkenswert, weil mit ihr eine sonst kaum in der gleichen Weise ausgeprägte unkritische Einstellung einhergeht.“

Das gilt bis heute. Wer in bestimmten Kreisen den Namen Montessori nennt, sieht sich umringt von interessierten Müttern. Manche Schule hängt sich den Namen Montessori ans Schultor – weil sie genau weiß, dass sie sich dann um die Nachfrage keine Sorge mehr machen braucht.

Stets revolutionär

Maria Montessori, geboren 1870, war eine gebildete, elegante und stets revolutionäre Frau. Sie studierte und promovierte als erste Italienerin in Medizin. Sie leitete mit 26 eine Klinik, in der sie in der Tat so etwas wie kleine pädagogische Wunder vollbrachte. In ihrer Behindertenschule Scuola Ortofrenica entwickelt sie ihre Methode des kindlichen Selbstlernens durch sinnliches Be-Greifen. Sie bringt Kinder durch die staatliche Schreib- und Leseprüfung, die man bereits aufgeben hatte. In einer Siedlung von Armen und Kriminellen in Rom baut sie auf Bitten von Gönnern ein „Casa dei Bambini“ auf. Aus den vollkommen verwahrlosten und sozial auffälligen Kindern werden gute Schüler, in Montessoris Worten so etwas wie kleine Engel.

Sie selbst sagt dazu in typisch euphorischer Tonlage:

„Man muss (...) verstehen in der Seele des Kindes den darin schlummernden Menschen anzusprechen. (…) Ich hatte diese Intuition, und ich glaube, dass nicht das didaktische Material allein, sondern diese meine Stimme, die sie anrief, die Kinder weckte und dazu antrieb, das Material zu benutzen und sich selbst zu erziehen."

Montessori benutzt tatsächlich immer wieder Begriffe wie Bekehrung oder Erweckung:

„Das war es, was in unseren Kindern vor sich ging: Da gab es eine Art Auferstehung von der Traurigkeit zur Freude, und da verschwanden zugleich eine Reihe von Charakterfehlern, von denen wir befürchtet hatten, sie würden sich unverbesserlich erweisen.“ (Kinder sind anders)

Der Erfolg Montessoris beruht auf einer Methode, die für ihre Zeit bemerkenswert ist und heute noch Bestandteil aller Reformschulen: Das Kind und seine eigenen Interessen in den Mittelpunkt des Lernens zu stellen. Dies geschieht in Abgrenzung zu Schulen, so Montessori, wo Kinder „an ihre Plätze ebenso geheftet sind wie Schmetterlinge an die Stecknadel.“

Kritiklose Rezeption

Die euphorische und kritiklose Rezeption einer Pädagogin wie Maria Montessori sagt nicht nur etwas über ihre Anhänger aus. Es ist bezeichnend, dass ihre Kritik an den Schulen des beginnenden 20. Jahrhunderts im Prinzip noch immer zutrifft: Nicht die Schulen passen sich den Interessen und Bedrüfnissen der Kinder an – sondern es muss umgekehrt sein.

Auch das heutige deutsche Schulsystem ist so rigide und starr, dass Eltern jede Chance nutzen, ihre Kinder aus den Prokrustesbetten der staatlichen Schule zu befreien. Egal, was ihren Guru 1924 mit Mussolini verband.

26.03.2010
12:43

Knabenliebe nicht im Wochenplan

Das pädagogische Problem der Bundesrepublik sind nicht die Handvoll Reformschulen, sondern die unreformierbare Staatsschule

Kein Tag ohne neue Enthüllung. Mit ekelhaften Details wird uns allen vor Augen geführt, wie Pater und Pädagogen ihre Macht über Schüler benutzen – um sich zu befriedigen. Wir müssen den Opfern genau zuhören, um zu verstehen, was es möglich gemacht hat, dass jemand Schutzbefohlene zum Objekt sexueller Interessen degradiert. Das ist schmerzhaft.

Aber wenn die Fälle zu irgendetwas nutze gewesen sein sollten, dann dazu: Die heute 40- bis 60jährigen Missbrauchten können uns Hinweise geben, wie man Kinder und Jugendlichen schützen kann, die sich in Schulen Päderasten gegenüber sehen.

Der zweite Blick muss auf das Datum des Missbrauchs richten, über den wir debattieren: 1970ff. Wir sollten nicht vergessen, dass wir 2010 schreiben. Wer sich von den Fällen in Berlin, St. Blasien und Ober-Hambach zu sehr fesseln lässt, wird leicht übersehen, dass es sich beim Kolleg St- Blasien und der Odenwaldschule heute um ganz andere Einrichtungen handelt. Zeiten ändern sich.

Kein weltabgewandtes Kloster

St. Blasien ist kein weltabgewandtes Kloster im Hotzenwald mit folterkammerähnlichen Verliesen. Es ist nicht mal mehr ein reines Internat, sondern ein öffentliches Gymnasium, das 580 SchülerInnen besuchen, die meisten von ihnen halbtags. Und das Landerziehungsheim Odenwaldschule ist kein Bootcamp für Päderasten, wo der böse Geist des pädophilen Gustav Wynekens spukt. Nein, in der heutigen Odenwaldschule leben junge Lehrer mit eigenen kleinen Kindern, Lehrer, die nicht wenig genervt sind von dem anstrengenden 24 Lehrer- und Erzieherjob, den der Gründer und Knickerbockerträger Paul Geheeb ihnen beschert hat.

Beide Schulen sind herkömmlichen staatlichen Schulen übrigens weit voraus – jedes auf seine Art.

Das Kolleg St. Blasien dürfte die erfolgreichste deutsche Fundraising-Schule sein. Dort wird alle paar Jahre investiert und modernisiert. Was das mit den Verhältnissen zu tun hat? Unendlich viel. Denn es macht eben einen Unterschied, ob eine Schule ein neues Musikhaus, ein frisch renoviertes Mädcheninternat, eine topmoderne Bibliothek besitzt und damit Schritt für Schritt mehr die Gestalt eines Colleges annimmt. Oder ob es als ein patergeführtes Kloster mit angeschlossener Schulbank definiert wird. In St. Blasien lehren heute eher zu wenige als zu viele Jesuiten. Das Problem St. Blasiens ist, wenn man das sagen darf, nicht etwa eine systematische Pädophilie, sondern der kleinkarierte 45-Minutentakt, der dieses Kolleg daran hindert, weit voraus ins 21. Jahrhundert zu springen.

Im Odenwald wurde vor 100 Jahren das liberalste der Landerziehungsheime gegründet. In den bemoosten Häusern am Waldhang leben nicht nur schnöselige reiche Kinder, deren Eltern sich 26.000 Euro Schulgeld im Jahr leisten können. Dort sind viele arme Kinder zuhause. Schüler, die vor Vernachlässigung und Verwahrlosung in Sicherheit gebracht werden, die sie bei ihren überforderten Eltern erleiden.

Sicherer Hafen

Das ist die eigentliche Tragödie der Debatte um die Odenwaldschule:

Während die halbe Nation auf die Schandtaten eines im Sterben liegenden Reform-Pädophilen in Berlin starrt und Kuschelpädagogik ganz neu definiert, werden deutsche Jugendämter den Odenwald nicht mehr als sicheren Hafen für vernachlässigte Kinder anwählen.

In der Unterstufe der Odenwaldschule haben zehn von 14 Kindern einen diagnostizierten Förderbedarf. Es gibt nur eine Handvoll Schulen in Deutschland, die mit solchen Kindern überhaupt arbeiten können. Die Lehrer im Odenwald können es ganz sicher.

Das ist kein Plädoyer, die Reformpädagogik zu entlasten. Die Missbrauchskrise wird in einer Revision dieses sehr deutschen Zweigs der Pädagogik münden. Das ist gut so, denn manche Vorstellungen der Reformpädagogen sind versponnen, ja abwegig und inakzeptabel. Rudolf Steiner war judenfeindlich und esoterisch, Hermann Lietz nationalkonservativ und antisemitisch, Peter Petersen antisemitisch und unfähig, sich von den Nazis fernzuhalten.

Wissen mit Gewalt verabreicht

Wie kam man dann überhaupt auf die Idee, sich auf diese Sonderlinge zu berufen? Dazu muss man sich vor Augen führen, wir brutal deutsche Schulen waren, ehe Reformpädagogen wie Ellen Key eine Pädagogik vom Kinde aus dachten.

Schulen waren Prügel- und Zwangsanstalten. Schüler wurden gehalten wie Hühner in Massenverschlägen, Wissen wurde mit Gewalt verabreicht. Noch kurz nach dem 2. Weltkrieg führte Bayern die Prügelstrafe wieder ein.

Nur so ist verstehbar, warum nicht wenige Deutsche sich und ihre Kinder in teils versponnene Schulkonzepte flüchteten. Allerdings: In ihnen stand erstmals nicht die Institution, sondern das Individuum im Mittelpunkt. Das war ein fundamentaler pädagogischer Perspektivwechsel – und allein er macht die Stärke der Reformpädagogik aus.

Wer von der Theorie der Reformpädagogik des 19. Jahrhunderts aus ein Urteil über die Praxis heutiger Alternativschulen fällt, sollte daher acht geben. Viele Abrechnungen dieser Tage übersehen, dass moderne Reformschulen wie etwa die Schulpreisträgerschulen ihren Lernplan nicht nach dem wirren Skript vieler Reformpädagogen schreiben.

Knabenliebe, pardon, steht dort nicht auf dem Stundenplan.

Es gibt überhaupt keinen Stundenplan mehr, weil eben nicht Fächer, sondern Kinder unterrichtet werden. Die modernen Schulen gründen ihre pädagogische Vorstellung auf der Kreativität und Selbstbestimmtheit des einzelnen Kindes. Sie sehen Kinder als die Quellen neuen Wissens. Vorbild dieser Reformschulen sind Arbeits- und Erkenntnisprozesse des 3. Jahrtausends – aber nicht Waldschrate, die ihren Hosenstall nicht zubekommen.

Pädagogisches Verbrechen

Die Lehrer von Reformschulen müssen im Umgang mit Kindern entscheidend an Macht und Direktivgewalt abgeben. Sie werden Lernbegleiter. Daher ist es auch ein pädagogisches Vebrechen, was Gerold Becker im Odenwald getan hat. Er hat sich im Gewande des verständnisvollen Lehrers und Freundes seinen Schülern auf Augenhöhe genähert – um ihr Abhängigkeitsverhältnis sexuell auszunutzen, nun wieder als ihr Chef.

Und es ist nicht zu fassen, dass der bedeutendste deutsche Pädagoge der Nachkriegszeit, Hartmut von Hentig, dieses Schema „seines Freundes“ nicht etwa entlarvt, sondern zu bagatellisieren und wegzureden versucht.

Dennoch ist die Post-Becker Debatte um die Reformpädagigik auch absurd. Denn das pädagogische Problem der Bundesrepublik sind nicht die Handvoll Reformschulen. Es ist die überwältigende Mehrheit der 30.000 staatlichen Schulen. Sie prügeln zwar nicht mehr – aber den Paradigmenwechsel von der Institution zum Kind haben sie nicht mitbekommen, geschweige denn vollzogen. Sie entlassen jeden fünften Schüler ohne Leseverständnis, sie arbeiten mit frontalen Lehrmethoden, die geradezu prähistorisch sind. Und sie zeigen sich als reformresistent. Das heißt, wir brauchen zugleich eine radikale Kritik der alten Reformpädagogik – und dringend eine neue Reformpädagogik, um verkrustete Schulen für das 21. Jahrhundert fit zu machen. 

20.02.2010
15:12

Gibt Pisa Auskünfte über Schulstrukturen?

    [Teil 3 von 10 oft gestellten Fragen zu Pisa]

    Es ist der heftigste und nervigste Streit, der seit dem 5. Dezember 2001, dem Tag der Veröffentlichung der ersten Pisastudie geführt wird: Urteilt Pisa auch über die deutsche Schulstruktur - also das in Sonder-, Haupt-, Real-, Gesamtschulen und Gymnasien fragmentierte Schulwesen?

    Selbstverständlich! Über keine andere Frage weiß man seit Pisa so gut Bescheid wie über die nach den Schulformen. Die Gymnasiasten erbringen mit weitem Abstand bessere Pisa-Leistungen als die Hauptschüler. Die Differenz zwischen diesen beiden Gruppen ist so groß wie in keinem anderen Land. Die einen Schüler sind den anderen nach Pisa zwei bis drei Lernjahre voraus – obwohl alle Getesteten gleich alt sind. 

    Das bedeutet: Es gibt sehr gute und es gibt miserable Schulen in Deutschland. Diese ergeben sich aus den Schulformen. Pisa stößt uns mit der Nase darauf.

    Der Abstand zwischen den so genannten Perzentilbändern, also den 5 Prozent besten und 5 Prozent schlechtesten Schülern, ist in Deutschland gigantisch. Und auch die Abstände zwischen den Schulen sind exorbitant hoch. Das ist der durchgehende Befund durch alle Pisastudien.

    Zwei Drittel der Leistungsdifferenzen zwischen Schülern lassen sich in Deutschland durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schule erklären. Zum Vergleich: In Finnland tragen die Unterschiede zwischen den Schulen nur zu 5 Prozent zu den Leistungsvarianzen zwischen Schülern bei. Die Ergebnisse der so genannten Varianzaufklärung gelten unter Pisaforschern als der Lackmustest dafür, wie sich die Schulstruktur direkt auf die Schulleistungen auswirkt.

    Das interessante ist nun: In wohl jedem anderen demokratischen Land wäre eine Debatte darüber ausgebrochen, ob es tragbar ist, die einen Schüler in schlechte und die anderen in gute Schulen zu sortieren. Nicht so in Deutschland. Pisa sage nichts über die Schulstrukturen aus, betonen die Kultusminister seit beinahe zehn Jahren – und wollen so etwas wie ein Tabu über die Schulformfrage verhängen.

    Das ist ein bisschen verrückt. Das sieht man am besten am so genannten Lehrerverband. Sein Vorsitzender Josef Kraus wird nicht müde zu betonen, es gebe über Schulformen bei Pisa keinerlei Aussagen zu finden. Zugleich war er aber wahnsinnig stolz, als bei einem Vergleich der Schulformen (Pisa 2003 erweitert) sich das Gymnasium als klarer Sieger erwiesen hatte - seiner Ansicht nach.

    (Es gibt übrigens Pisaforscher wie Jürgen Baumert, die solche Vergleiche aus ethischen Gründen ablehnen. Sie argumentieren, dass es nicht fair ist, in einem nach Leistungen gegliederten Schulsystem die niedrigen Schulen Sonder- und Hauptschulen auch noch öffentlich bloßzustellen.)

    Die Vorsitzenden des Lehrer- und des Philologenverbandes, Josef Kraus und Heinz-Peter Meidinger, haben da wenig Skrupel. Sie fordern erstens die ethisch fragwürdigen Schulformvergleiche und sie zelebrieren zweitens die Schulformaussagen der Pisastudie.

    Die Frage ist: Wie erklärt sich diese Paradoxie? Einerseits benutzt man die Schulformvergleiche aus Pisa – und andererseits schwört man Stein und Bein, Pisa sage gar nichts über Schulformen.

    Die Antwort steht nicht in Pisa, sondern man findet sie in der Psychologie der Interessenvertreter. Kraus' und Meidingers Job ist es, ihre Gymnasien gegen Angriffe zu verteidigen. Wäre es möglich, aus Pisa eine schnelle schulpolitische Konsequenz zu ziehen, so müsste man sofort die Gymnasien abschaffen – weil sie ganz offensichtlich zur Sonderung der Schüler beitragen. Kraus und Meidinger sind dazu da genau das zu verhindern.

    (Zum Vergleich: Die Verfassung schreibt bei Privatschulen vor, dass diese ZU VERBIETEN SIND, wenn sie zur Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen ihrer Eltern führen. Die Gymnasien tun dies noch viel mehr - aber hier verbietet niemand die Gymnasien: Hier untersagt man, über die Gymnasien zu diskutieren.)

    Eine Demokratisierung des deutschen Schulwesens, das muss man dazu sagen, ist allerdings nur schrittweise möglich. Man kann eine historisch gewachsene Schulstruktur nicht über Nacht ändern, selbst wenn dies demokratisch geboten wäre. Besser ist es, behutsame Zwischenschritte zu machen. 

    Pisa ist praktisch eine Schulform-Aufklärungsstudie. Sie gibt uns detailliert Auskünfte über die trennenden Wirkungen der deutschen Schule. Sie verrät uns, dass es nicht etwa ein böser Zufall ist, sondern die Idee des Schulsystems, die Schüler in gute und schlechte zu teilen. Und zwar: nach Leistung und Herkunft.

    Gut, dass Pisa diese Aussage wissenschaftlich untermauert.

08.02.2010
12:36

Studienrat kennt Schulgeschichte nicht

Pisa lesen - und nicht verstehen (wollen)

Am Freitag wurde bei den Grundschulgesprächen in Hamburg vereinbart, wissenschaftliche Untersuchungen zu Rate zu ziehen. So will man Beweise für die vier- oder die sechsjährige Grundschule hervorzaubern.

Der deutsche Philologenverband hat nun das stärkste Argument aus dem Hut gezogen: Die sechsjährige Grundschule erhöht die soziale Selektivität von Schule. Als Beweis führt Philologenchef Hans-Peter Meidinger das Land Brandenburg an. 

Dort sei die sechsjährige Grundschule eingeführt worden - und, schwups, sofort sei das Land ans Ende der Gerechtigkeitstabelle gerutscht.

Eine putzige Argumentation, die der oberste Studienrat der Nation da ablässt - aus vielen Gründen.

Zunächst das Argument des Hans-Peter Meidinger im O-Ton:

"Ein Blick auf das einzige Bundesland, das in diesem Zeitraum eine verpflichtende sechsjährige Grundschule eingeführt hatte, Brandenburg, fördert Erstaunliches zutage. Nicht nur, dass sich in Brandenburg der Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Bildungserfolg (Steigung des sozialen Gradienten) im Berichtszeitraum 'signifikant' erhöht hat, auch in der Lesekompetenz konnte eine 'tendenzielle Zunahme der sozialen Unterschiede' festgestellt werden." 

Pisaversteher sagt dazu dreierlei:

1) Ist Brandenburg allenfalls ein Superargument FÜR die sechsjährige Grundschule. Denn die Zuwächse beim Gymnasialbesuch sind nirgends so stark wie in Brandenburg. Das heißt, die sechsjährige Grundschule macht also einen Superjob.

2) Die sechsjährige Grundschule für den schlechten Sozialwert im Jahr 2006 verantwortlich zu machen, ist weder intelligent noch logisch. Denn im Jahr 2000 hatte Brandenburg einen Super-Gerechtigkeitswert - und auch damals gab es schon die sechsjährige Grundschule. Wieso sollte also die sechsjährige Grundschule 2006 plötzlich schuld sein, dass der Gerechtigkeitsfaktor absinkt?

(Hintergrund: Bei Pisa 2000 war die Chance eines Akademikerkindes in Brandenburg aufs Gymnasium DOPPELT SO HOCH wie die eines Arbeiterkindes. 2006 ist der Wert fast 5x so hoch. Beide Male übrigens bei gleichen Leistungen! >>> Pisa 2006)

3) ... zeigt Meidinger im Grunde nur, wie schlecht das Gymnasium ist - und besonders dessen Lehrer und Verbandsvertreter. Denn in Brandenburg gab es nur 2x in der Geschichte eine vierjährige Grundschule. 1919 - und 1990 für eine logische Sekunde. Denn in Brandenburg wurde DIREKT NACH DER WENDE die sechsjährige Grundschule eingeführt; vorher gab es die POS, die von Klasse eins bis nach oben wuchs. Mit anderen Worten: Entweder schwindelt Mister Gymnasium die Menschen an, wenn er behaupptet, dass Brandenburg "das einzige Bundesland ist, das in diesem Zeitraum eine verpflichtende sechsjährige Grundschule eingeführt hatte". Oder er hat einfache keine Ahnung von Geschichte. In beiden Fällen ist es oberpeinlich. 

Für was argumentiert Meidinger eigentlich?

Für die Abschaffung des Gymnasiums!

06.02.2010
23:25

lets talk about - frontloading

In unserer Twitterwolke rund um (neue) Schule und (modernes) Lernen kommt es immer wieder zu, nun ja, kleinen Scharmützeln,

ob und wie sinnvoll Frontalunterricht eigentlich noch ist. 

@cervus hat zuletzt heute (Samstag, 6. Feb) eine witzige Bemerkung gemacht über @chrisimwebs diktum, medien seien gut, "um den frontalunterricht effizienter zu machen". (er hat das dann präzisiert, schaut seinen tweet an.)

(Siehe auch die frischen Kommentare hier im Blog. >>>)

Unter der Woche ging es um die Frage, ob man die Schulstruktur ODER den Unterricht ändern müsse. @mccab99 meinte, die Hamburger Debatte über vier oder sechs Jahre Grundschule sei nebensächlich. Pisaversteher fragte sich, wie man Schulstruktur und Lernstil denn voneinander trennen könne:

@mccab99 struktur ist keine hinreichende antwort auf neu lernen @ciffi sagt dazu: aber eine notwendige. solange studienräte abschulen können, ändern sie stil nicht

Mein Vorschlag wäre daher, dass man hier und mit Tweets diskutieren sollte. Vielleicht nehmen wir uns Michael Feltens "Auf die Lehrer kommt es an" als Vorlage. Es wird vom Verlag so angekündigt: 

"Die Bildungsdebatte kreist zu sehr um Strukturfragen und Leistungsstandards. Schulerfolg und Chancengerechtigkeit sind aber vor allem eine Frage der Unterrichtsqualität. Angesichts veränderter Kindheiten erweisen sich steuernde Lehrformen der offenen Pädagogik als vielfach überlegen. Gefragt sind heute Führungsfreude, Methodenklarheit und Einfühlsamkeit. (...) Was ist effiziente Klassenführung?"

Ich habe schon mal reingesehen, und habe es jetzt @nklee68 zu rezension für die taz gegeben. Felten, der Lehrer in Köln ist, hat schon mal diesen text für die taz geschrieben. >>> Am Pult kann nur einer stehen

Ich will nicht zu viel vorlegen, aber ich finde: Dieses Buch, dieses Haltung hat im 21. Jahrhundert nichts mehr verloren. its over. Kann man wirklich heute noch so über Schule reden? 

Einladung zur Diskussion. 

pisaversteher.de