Gebrauchsanweisung
Vier oder sechs Jahre Grundschule?
Mit dem Hamburger Anwalt Walter Scheuerl Entrecote im Cafe Paris zu essen, ist ein großes Vergnügen. Aufgeräumt berichtet der fröhliche Mann von seiner Arbeit und seinem Leben. Allzu gerne würde man mit ihm vielleicht mal einen Wanderweg in den Alpen gehen oder mit seiner Seglergruppe ein Törn machen (oder wie das heißt).
Allerdings ist es anders, wenn der freundliche Herr als Sprecher von „Wir wollen lernen“ auftritt, einer Hamburger Bürgerini, welche die Einführung der sechsjährigen Grundschule verhindern will. Da betreibt Herr Scheuerl eine Politik der Falschinformation und Spaltung der Gesellschaft.
Sie glauben es nicht? Gut, dann hier eine kleine Gebrauchsanweisung für den – hoffentlich! - bevorstehenden Volksentscheid in Hamburg über die sechsjährige Grundschule.
1. Was soll diese sechsjährige Grundschule?
Bei dem großen Schulstreit, der im Moment in Hamburg ausgefochten wird, geht es um mehr als eine bloße Verlängerung der Grundschule von vier auf sechs Jahre. Die Idee ist, weniger Kinder zurückzulassen. Und das hat Hamburg bitter nötig – besitzt es doch neben Berlin, Bremen und dem Saarland und noch weit hinter Hessen und NRW die schlechtesten deutschen Schulen. Die Rate an Bildungsverlierern ist in Hamburg besonders hoch, die Zahl der bereits umgekippten Hauptschulen war zuletzt ebenfalls unzumutbar hoch.
Ein Gegenmittel: Die sechsjährige Grundschule, also die Verschiebung der Auslese um zwei Jahre soll im Verein mit einer pädagogischen Aufwertung der Schulen und der Vereinfachung der Schulstruktur auf zwei Säulen die hohen Risikoschülerzahlen reduzieren. Das kann mit diesen Maßnahmen gelingen – wie die Beispiele einer Reihe von Bundesländern zeigen, die mit der Einführung von kooperativen Schulen die Zahl der Bildungsverlierer deutlich drücken konnten. (Siehe Pisa 2006, nationaler Vergleichsbericht)
Mit der Verlängerung der Grundschulen stehen gleichzeitig zwei völlig unterschiedliche Lernkulturen zur Debatte: Hier das auf frühe Auslese zielende gegliederte Schulwesen. Dort eine auf Förderung jedes einzelnen indes bedachte Kultur des integrativen Lernens.
Modell 1 steht für die Schule des 19. Jahrhunderts, die den Sortierauftrag des Staates nach vermeintlich objektiven Begabungen als oberste Maxime kennt.
Modell 2 steht für eine Schule des 21. Jahrhunderts, die das einzelne Kind in den Mittelpunkt des Lernens rückt. Und die pädagogische Armut der Regelschulen bereichert.
2. Erreicht die 6jährige Grundschule ihre Ziele?
Dafür gibt es naturgemäß keine Garantie. Wissenschaftliche Untersuchungen können nur im nachhinein zeigen, ob es gelingen wird, die Schulen der Hansestadt besser, gerechter und moderner zu machen. Ein Selbstläufer wird das nicht, so viel ist klar. Es bedarf einer deutlichen Verbesserung der Lernkultur.
Allerdings gibt es eine Fülle von Studien, die das Modell grundsätzlich für positiv erachten. Die wichtigste hat der Erziehungswissenschaftler Rainer Lehmann vorgelegt. Lehmann verglich die Lernleistungen der fünften und sechsten Klassen der Berliner Grundschule mit den selben Klassenstufen des Berliner (grundständigen) Gymnasiums, die so genannte Element-Studie. In Berlin können Grundschüler prinzipiell vier oder sechs Jahre in die Grundschule gehen.
Das Ergebnis Lehmanns: Die Lernzuwächse an der Grundschule sind im Durchschnitt besser als am Gymnasium. Das ist insofern bemerkenswert, da die Berliner grundständigen Gymnasien eine kleine, bevorzugte Schicht von nur sieben Prozent des Jahrgangs unterrichten – und dennoch keine besseren Gesamtzuwächse erzielen konnten als die Masse der 93 Prozent der Fünft- und Sechstklässler an den Grundschulen.
Zum Vergleich: Das wäre gerade so, als würde der FC Bayern mit einer kleinen Schar von Elitespielern, versorgt mit mehr Geld, teureren Trainern und dem viel anspruchsvolleren Programm schlechter abschneiden als die in der gleichen Liga antretenden Kneipen- und Freizeitmannschaften.
Lehmanns Studie hat zu vielen Diskussionen geführt und wird gern als Gegenbeleg aufgeführt, da Lehmann in einem gezielt politisch gehaltenen Interview seine Ergebnisse in Der Zeit ein bisschen schlicht darstellte. Die Zeit entschuldigte sich kleinlaut. Und der deutsche Pisa-Papst und Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Jürgen Baumert überprüfte Lehmanns Daten zur Sicherheit. Baumerts Ergebnis setzte ein dickes Fragezeichen hinter die pädagogische Qualität des deutschen Gymnasiums:
„In keinem Leistungsbereich sind Förderwirkungen des grundständigen Gymnasiums nachweisbar“, analysiert der beste deutsche Schulforscher. Und resümiert: „Bewertet man die Befunde insgesamt, so sind sie zunächst ein Kompliment für die [sechsjährige, d. Red.] Grundschule. Die Entwicklungskurven von Spitzenschülern verlaufen in der Grundschule und in der Unterstufe des grundständigen Gymnasiums parallel, und zwar nicht nur im Lesen, sondern … auch in der unterrichtsabhängigen Domäne Mathematik. Für die grundständigen Gymnasien sind die Befunde ein Grund zur Nachdenklichkeit. Generell ist fraglich, ob die Gymnasien die Förderung der Lesekompetenz als akademische Aufgabe aller Fächer bislang überhaupt entdeckt haben.“
3. Gibt es einen guten Kompromiss?
Walter Scheuerl schlägt vor, nur einen Teil der Grundschulen auf eine sechsjährige Laufzeit umzustellen. Dann ließe sich „im Wettbewerb“ entscheiden, welche Schule die bessere sei. Eine teilweise Einführung der Grundschule wäre, offen gesagt, ein ganz schlechter Kompromiss – und man sollte es dann lieber ganz bleiben lassen. Auch hier kann Hamburg von Berlin lernen, das ja eine parallele Struktur ermöglicht: Es ist verheerend für die pädagogische Atmosphäre und die Praxis der Grundschule, dass sich Eltern und Kinder stets über vier oder sechs Jahre entzweien. Der Schulkampf wandert gleichsam in jede einzelne Klasse.
Das längere gemeinsame Lernen ist in ganz Europa und auf der Welt weit verbreitet. Nirgendwo gibt es deswegen so viel Aufregung wie in Deutschland. Es ist einfach selbstverständlich, dass eine demokratische Schule seinen kleinen Bürgern möglichst lange die gleichen Startchancen einräumt. Und seltsam:
Was soll ein Kompromiss bei dem fundamentalen Recht auf Bildung? Sind Menschenrechte doch teilbar? Kann man einem Teil der Kinder besser Chancen einräumen als einem anderen?
Walter Scheuerls Wettbewerbsargument ist für einen Rechtsstaat schwer tragbar: Gesetze gelten für Bürger gleich – oder würde jemand auf die Idee kommen, zwei Steuersätze probehalber in einem Modellversuch miteinander konkurrieren zu lassen? Nein, die sechsjährige Grundschule sollte man ganz einführen oder gar nicht?
4. Was hat „Wir wollen lernen“ erreicht?
Die Ini kann ausgesprochen positive Folgen haben, wenn man die Einführung der neuen Primarstufe mit noch mehr pädagogischer und qualitativer Unterstützung einführt. Dann hätte sich die Aktion gelohnt. Kommt es zu einem Volksentscheid wäre dies die demokratisch beste Antwort auf den Konflikt. Denn dann könnte man die Hamburger Bürger fragen, ob sie ihre Schulen modernisieren wollen – oder ob sie auf dem ständischen Prinzip (Ole von Beust) der früh gegliederten Schule beharren.
Nicht unwichtig ist, ob und wie sich die SPD positioniert. Die Sozialdemokraten haben eine ulkige Position: Sie sind einerseits vehement FÜR das längere gemeinsame Lernen, wollen aber MOMENTAN nicht verraten, wie sie das einführen wollen. Verlöre die Ini von Walter Scheuerl die Unterstützung der Sozialdemokratie, würde ein Volksentscheid sicher offener werden. „Es ist auch unser Erfolg, dass heute alle Parteien für das gemeinsame längere Lernen einstehen,“ sagte Fraktionschef Neumann beim Neujahrsempfang der SPD Hamburgs. Die Zerrissenheit der SPD zeigt sich wunderbar an einem Interview des SPDler Thies Rabe zum Thema. Er sagt: Die Idee der Primarschule ist famos - aber ihre Umsetzung sei nicht gut.
Zudem hat „Wir wollen lernen“ (WWL) mit einer merkwürdigen Aktion seine Anhänger verwirrt. WWL sammelte enorm viele Stimmen beim Bürgerentscheid mit der Verletzung des Elternwahlrechts, gegen dessen Verletzung es so lang und lautstark demonstrierte. Nun aber plötzlich ein Kehrtwende. Walter Scheuerl ist gar nicht mehr für das Elternwahlrecht, wenn es ab der sechsten Klasse gilt. Denn er hat erkannt, dass die völlig Freigabe des Elternwahlrechts ab der sechsten Klasse seine geliebten Gymnasien vor eine Zerreißprobe stellen würde. Dann könnte JEDER seine Kinder aufs Gymnasium schicken. Daher votierte er nun plötzlich für ein Recht nur nach der vierten Klasse – das obendrein nur für bestimmte Eltern gelten soll: Das Bildungsbürgertum.
WatchBlog LernWächter
Die Korrektur
Das erste WatchBlog hat rege Aufmerksamkeit hervorgerufen. Martensteins Fan dete hat einen Kommentar auf sein Weblog subtexte geschrieben. (Leider zensiert dete einen kommentar von pisaversteher dazu, daher dokumentiere ich ihn unten dieser Seite.) Unten stehen ebenfalls Kommentare von Lehrern, die - ihrem Kollegen beispringen. Prima.
Besonders wichtig: Warum schwören Lehrer keinen Eid, jedes Kind zu bestmöglich zu fördern und keines zurück zu lassen? (Siehe Anmerkung)
Wie muss man sich fühlen, wenn man eine Arbeit mit dieser Bemerkung zurückbekommt?
„Der Hauptteil ist noch nicht gelungen. Hier gibst du nicht nur unwesentliche, sondern auch falsche Inhalte wieder. Es wird deutlich, dass du die Zusammenhänge des Vorfalles nicht erkennst und auch nicht folgerichtig darstellen kannst. Auch glückt s dir nicht, die Zusammenhänge durch Adverbialsätze oder Adverbien in eine logische Reihenfolge zu bringen. Der Schluss muss ebenso Verbesssert werden (...) Achte auch auf die äußere Form der Arbeit."
Das sind die Kommentare eines Lehrers zur Arbeit eines jungen Gymnasiasten. pisaversteher erspart es sich, weitere Passagen zu veröffentlichen. Es findet sich in der Arbeit und seinen Korrekturen keine einzige aufmunternde oder positive Bermerkung - übrigens auch nicht mündlich. Diese Korrektur atmet den Geist des "Du-gehörst-hier-nicht-her!"
Solche übellaunigen, zerstörerischen und beschämenden Korrekturen gibt es täglich Tausendfach in Deutschland. Und es wird Zeit, dass Kinder und Eltern damit nicht mehr allein bleiben.
Daher richtet Pisaversteher ein WatchBlog LernWächter ein. Er soll Korrekturen öffentlich machen, er soll das Fehlverhalten an Schulen aufzeigen, die Auslese vor Förderung, die Beschämung vor Stärkung setzen.
Das WatchBlog wird aber nicht nur Lehrer beobachten, sondern auch Eltern(verbände) und Minister. Weil es nicht mehr sein kann, dass die kleinen und großen Gemeinheiten unbeobachtet bleiben.
Etwa wenn der Berliner Landeselternausschuss einen Runden Tisch zu "Schulhelfern" organisiert - und die wichtigste Berliner NGO auf diesem Gebiet, das "Netzwerk Förderkinder" mit fiesen Tricks davon ausschließt. Sortieren statt Fördern - das gilt auch hier.
Oder wenn die Edelfeder Martenstein schreibt: „Bildung ist für zehn oder fünfzehn Prozent der Bevölkerung objektiv wertlos geworden.“
"Kein Kind bleibt zurück", dieser Grundsatz ist auch dann verletzt, wenn der neue Präsident der Kultusminister, Ludwig Spaenle (CSU), die Hauptschule zu einem "niederschwelligen pädagogischen Angebot besonders für Migranten" erklärt.
Wer bei dem LernWächter mitmachen will, der schreibt einen Kommentar mit einem Hinweis hier rein. Oder eine mail an lernwaechter(at)email.de
anmerkung: inzwischen gibt es einige kommentare, die alle in die gleiche richtung gehen - man kann den fall (oben) ohne die unterrichtssituation nicht wirklich decodieren. tja, mehr können wir nicht verraten - sonst ist der schüler gefährdet, denn man könnte ihn identifizieren.
ich kann nur soviel sagen: vor der probe wurde systematisch druck aufgebaut und die negative beurteilung wurde mündlich keineswegs aufgefangen. das ist ja die kritik - die sortieranstalt schule wirkt bis in die kleinste unterrichtssituation hinein.
ich finde zwei bemerkungen aufschlussreich, die im laufe des tages bei mir eingingen:
Wenn du unter eine schlechte Klausur (5 oder 6, für manche auch schon 3 oder 4) einen positiven Kommentar schreibst, könnte ja jemand auf die Idee kommen, deine Note anhand dieser Bemerkung in Frage stellen. Das bedeutet Zeitaufwand, Diskussionen evtl Ärger mit der Schulleitung oder weiteren Behörden. Darum korrigieren manche bestimmt lieber "eindeutig". Traurig, ist aber leider so.
So schreibt ein lehrer, und es zeigt, dass nicht die pädagogen das probelm sind, sondern ein schulsystem, das sie zwingt, gegen ihren pädagogischen eid* zu verstoßen und nach den schwächen eines kindes zu fahnden, anstatt seine stärken zu stärken.
Dass das insgesamt natürlich nicht im Geringsten motivierend ist - keine Frage. Dass Lehrer das gerne anders machen würden - auch keine Frage. Aber sie müssen, so sind die Vorgaben.
... lautet ein anderer kommentar. das, ich muss es zugeben, macht einen sprachlos. hier stehe ich und kann nicht anders - also demotiviere ich.
Anmerkung 2 - Kommentar auf detlefteichs subtexte, der aber von dete leider nicht zugelassen wird:
pisaversteher_ der einwand ist nur scheinbar berechtigt. natürlich kann man die umgebende situation des falles nicht schildern, weil sie eine identifierung des schülers zuliesse und unweigerlich zu seiner relegation führen würde. die schule ist in weiten teilen eine schülererniedrigungsanstalt - gerade im gymnasium für jene, die nicht ins ideal der studienräte passen. es gibt solche lehrer heute noch, die aufsätze öffentlich beklatschen, in denen ein antidemokratisches bild von schule verherrlicht wird: bildung sei für 20 prozent der bevölkerung objektiv wertlos (martenstein). ein solcher satz ist mit der aufklärung nicht zu vereinen; deutschlehrer, die auch gegenüber dritten immer ihren rotstift bereit halten, können sich freilich in der verfassung nicht so gut auskennen. aber kein problem: die sortiermaschine demografie wird uns von dieser sorte lehrer bald befreien - 467.000 lehrer alter schule sagen good bye bis 2020. puuh!
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*ein kommentar (s.u.) stellt fest, dass lehrer keinen eid für die gute erziehung der kinder leisten, sondern auf den staat schwören. vielleicht liegt es daran: lehrer fühlen sich nicht dafür verantwortlich, wie hartmut von hentig schreibt:
- die Eigenheit eines jeden Kindes zu achten und gegen jedermann zu verteidigen,
- für seine körperliche und seelische Unversehrtheit einzustehen,
- zu allem, was ich seiner Person antue, seine Zustimmung zu suchen, wie ich es bei einem Erwachsenen täte,
- das Gesetz seiner Entwicklung, soweit es erkennbar ist, zum Guten auszulegen und dem Kind zu ermöglichen, dieses Gesetz anzunehmen,
- seine Anlagen herauszufordern und zu fördern (...)
Deutschland sucht den Superkultusminister
Das Twitter Casting
Am Freitag wird der neue Präsident der Kultusministerkonferenz gewählt. Pisaversteher ruft auf: Wählt selbst den heimlichen Kultuschef – kürt den Superkultusminister!
[1. Einsendung: Arbeit und Leben Niedersachsen nominiert Schulminister Rau - mit einer Bemerkung über Inklusion. - siehe unten -
2. Jo Leffers nominiert "BuBiMi Annette 'ohne Land' Schavan mit Zitat: "Kein Kind darf verloren gehen"
3. Lothar Pfaffmann (SPD, Bayern) nominiert Lupo Spaenle, weil er Hauptschulen als "niederschwelliges Bildungsangebot" besonders für Migranten behalten will.
4. cif nominiert den Regierungsdirektor des gegliederten Schulwesens, Josef Kraus: "Warum soll ich das quasiprogressive Imitat CDU wählen, wenn ich ein rotes, dunkelrotes oder grünes Original habe?" in der Holz-Faz]
Die deutsche Schule steht zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer merkwürdig eingeklemmten Situation.
Hier drängen eine kleine Zahl von Reformschulen, neue Technologien, vor allem aber eine muntere Community von digital natives zu einem neuen Lernen2.0. Ihr Motto:
Wissen für alle überall, Schluss mit dem Kreativitätskiller Lehrplanschule.
Auf der anderen Seite gibt es unglaublich enthusiastische Fans des Frontbeladens. Sie hängen der Schule des 19. Jahrhunderts an – und zwar konsequent in ihrer Erscheinungsform als Dreiklassenschule und ihrer Verkehrsform des Feuerzangenbowlen-Lernens.
Die Schule leidet an einem Modernisierungsrückstand. Anderswo denken ganze Nationen darüber nach, wie man 21st Century Skills, die Kompetenzen für das 21. Jahrhundert kreieren kann. Deutschland aber arbeitet sich seit Pisa 2000 an zwei Kardinalfragen ab, die beinahe jede Bildungsdebatte strangulieren: Ist die dreigliedrige Schule toll – oder ein Desaster? Und: Wie modern ist die griechische Landschildkröte unter den Steuerungsgremien, die Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK)?
Beide Themen sind eng miteinander verknüpft. Die Gruppe, die am heftigsten nach der gegliederten Schule ruft, sind die Kultusminister. Sie sind die Gralshüter des staatlichen Bildungsmonopols im Format des beginnenden 19. Jahrhunderts: Als in drei Typen, später vier sich ausdifferenzierende gegliederte Schule.
Pisaverstehr findet, wir müssen nicht nur unsere Schule besser verstehen, sondern auch unsere schulpolitische Akteure. Daher richtet Pisaversteher nun einen Wettbewerb aus. Wir wählen als Netzcommunity den klügsten Kultusminister, die hellste Leuchte unter den Zukunfts- und Innovationsministern, wie sie sich gerne nennen.
Allerdings: Gewählt wird nicht mit Stimmen, sondern mit Zitaten. Wir suchen die besten O-Töne und Aktionen der Kultuschefs.
Beispiele für Klasse-Aktionen:
NRW-Schulministerin Barbara Sommer wollte im Jahr 2008 Kopfnoten wieder einführen. So sollten Kinder schon in der Schule das Arbeits- und Sozialverhalten besser einüben können, das sie später in ihren 21st Century-Jobs dringend brauchen
Der bayerische Kultusminister Ludwig Spaenle: „Wenn es sein muss, lasse ich mich dafür auch verklagen", sagte er im Jahr 2009 zu seiner Weigerung, seine Schulen auf Inklusion, also „Schule für alle“ umzustellen. Dies verlangt die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Handikaps, die auch Deutschland ratifiziert hat.
Die Ministerin aus Niedersachsen, Elisabeth Heister-Neumann (CDU), hat ein besonderes Kunststück fertig gebracht. Erst wurde in ihrem Land die Gesamtschule praktisch gesetzlich verboten. Inzwischen darf man wieder Gesamtschulen gründen, wovon die Bevölkerung auch reichlich Gebrauch macht. Heister-Neumann aber gibt sich nicht so leicht geschlagen – sie verlangt, dass auch Gesamtschulen das Abi nur als Turbo-Variante in acht Jahren vergeben dürfen. Ziel: So müssen die Gesamtschulen ihre Schülerschaft früher zwingen, sich für Abi oder Nicht-Abi zu entscheiden.
hier die Vorschläge
1. Vorschlag für den heimlichen Superminister: "Es ist ein inklusives Schulsystem" - so antwortete der baden-wüttembergische Kultusminister Helmut Rau im Interview auf den Hinweise der taz "Sie sollen ein inklusives Schulsystem schaffen!" taz Der Hinweis kam von Arbeit und Leben Lüneburg, inklusive Menschenrechte
Wer weitere Sternstunden der deutschen Bildungspolitik aus dem Munde unserer Kultusminister zu erzählen weiß, sende einen Kommentar an Pisaversteher.de das „Superminister-Weblog“. Oder zwitschere sein Fundstück an @ciffi auf Twitter. Hashtag #superminister
Einsendeschluss: Donnerstag 24 Uhr.
Denn wir wollen pünktlich zur Inauguration des offiziellen Kultus-Präsers den Schatten-Superkultusminister ernennen!
Best, Christian Füller alias Pisaversteher alias @ciffi
Dr. Martensteins Gruselkabinett
Der Kolumnist als letzter Ideologe
Harald Martenstein gilt als einer der hübschesten Schönschreiber. Seine Kolumnen in Tagesspiegel und ZEIT entzücken immer wieder. Gern räsoniert Martenstein immer wieder auch über Bildungsfragen - und erweist sich dabei als einer der letzten Ideologen. Pisaversteher hat ein Grusel-Best of des jüngsten Textes im Tagesspitzel zusammengestellt. "Die Theoretiker der Erziehung sind die letzten Ideologen." Ähnlich argumentiert die FAZ v. 2. Februar 2010.
(Siehe auch "Klassenkampf der Bildungsbürger", taz, und Twitter unter dem Hashtag bzw. Stichwort #letzterideologe)
„Bildung ist für zehn oder fünfzehn Prozent der Bevölkerung objektiv wertlos geworden.“
„Eltern, die ihre Elternschaft ernst nehmen, werden immer für eine möglichst gute Ausbildung ihrer Kinder kämpfen, gesellschaftliche Probleme und das Wohl anderer Kinder werden ihnen vergleichsweise, und völlig zu Recht, egal sein.“
„Das Gymnasium hat seit zweieinhalbtausend Jahren bewiesen, dass es funktioniert.“
„Dauerarbeitslose verhalten sich rational, wenn … (sie) ihre Lebensfreude im Alkohol oder auch in der Kriminalität suchen. Haben sie eine Alternative? Würde ihnen ein Hauptschulabschluss etwas bringen?“
„Jetzt braucht man bei uns das Proletariat nicht mehr (…) die Mühen der Selbstdisziplin sind sinnlos geworden, auch die Mühen der Erziehung.“
„Wenn das Bildungssystem heute nicht einmal mehr in der Lage ist, jedem Lesen und Schreiben beizubringen, dann hängt das (...) damit zusammen, dass Bildung für zehn oder fünfzehn Prozent der Bevölkerung objektiv wertlos geworden ist. Es gibt für sie keine Chancen.“
„Jetzt wird die Hauptschule abgeschafft, aber die Hauptschüler kann man nicht abschaffen, sie bleiben. (…) Sie werden jetzt ihre Hoffnungslosigkeit und ihre berechtigte Wut in die ehemaligen Realschulen tragen.“
Wählt Schindler ab
Berlins Elternboss ist gegen eine demokratische Schule
Ein Kommentar des Watch-Blogs Landeselternausschuss (LEA)
[Um es vorweg zu sagen: Der LEA hat seinen Vorsitzenden am Freitagabend - 8. Jan - mit 15:3 Stimmen wiedergewählt.]
André Schindler ist nicht ohne Charme. Seinem trockenen Humor kann man sich schwerlich entziehen. Er ist persönlich eine ganz angenehme Erscheinung - und natürlich ein echter Politprofi.
Aber als Chef des Landeselternausschusses ist er nicht tragbar. Am Freitag wählt Berlins höchstes Elterngremium - es sollte die Gelegenheit nutzen und Schindler absetzen.
André Schindler ist für ein demokratisches Organ ungeeignet. Denn er ist erstens kein Demokrat, sondern ein rücksichtsloser Populist. Und er hat zweitens keinen Begriff von einer demokratischen Schule. Enttäuschte politische Hoffnungen, die er mit seiner gescheiterten Bildungspartei begraben musste, rechtfertigen nicht, Berlins Eltern zur Geisel eines verletzten Egomanen zu machen. Und sie seinen dauernden Desinformationen auszusetzen.
Schindler hat jüngst in einer Kampagne, bei der er um fünf Uhr morgens das Feuer eröffnete, eine sagenhafte Falschbehauptung in die Welt gesetzt:
Berlins Gymnasien seien in Gefahr, trötete er via Twitter, der Homepage des Elternverbandes und seinen Schleppenträgern von der Morgenpost.
Das ist keine Petitesse. Mitten in einer Schulreform mit der Autorität des obersten Elternsprechers den Untergang der Gymnasien zu verbreiten, ist reine Panikmache.
Die Eltern vieler Berliner Dritt- und Viertklässler reagierten zurecht nervös. Viele wollten ihre Kinder sofort aus den Grundschulen herausholen und aufs Gymnasium bugsieren – solange das möglich sei. André Schindler hat den Grundschulen so absichtlich geschadet. Seriöse Elternsprecher hatten viel zu tun, um in stundenlangen Gesprächen seine Falschinformationen aufzuklären.
Die Behauptungen Schindlers waren reine Spekulation. Sie populistisch zu verbreiten ist eines Mannes, der Beliner Eltern gut vertreten soll, nicht würdig.
Dass Schindler die Interessen seiner Kinder wahrnimmt ist völlig in Ordnung. Dafür ist er als Gymnasialsprecher in seiner Schule gewählt. Nur hat der Vertreter aller Eltern von Berlins Schulkindern hat eine ganz andere Rolle. Er soll nicht einseitige Klientelpolitik für das Gymnasium und, ja, Hetze gegen andere Schulformen verbreiten. Er soll für alle Berliner Eltern sprechen. Schindler attackiert aber meist Gemeinschafts- und Grundschulen. Ihm sind ganz offensichtlich integrierte Schulformen ein Dorn im Auge.
Als die inzwischen von Eltern stark nachgefragte Gemeinschaftsschule eingeführt wurde, nannte sie Schindler sofort ein teures und unsinniges Projekt. Als ein Wissenschaftler mit einer zweifelhaften Studie (die inzwischen widerlegt ist) Stimmung gegen die sechsjährige Berliner Grundschule machte, veranstaltete Schindler große Bahnhöfe für die Verbreitung der Unwahrheiten.
Vor wenigen Tagen erst verlangten Schindler und der von ihm dominierte Landeselternausschuss, auch schon die Berliner Erstklässler ständigen zentralen Vergleichsuntersuchungen auszusetzen. Diese Forderung trägt erneut Unsicherheit in die Lehrerschaft, die bereits jetzt klagt, vor lauter Wiegen und Messen der Schüler nicht mehr zum Lernen mit den Schülern zu kommen.
Schindler lässt keine Gelegenheit aus, gegen die Berliner Schulreformen zu mobilisieren.
Dabei ist unter Fachleuten die Vereinfachung und pädagogische Aufwertung der Schularten absolut unumstritten. Sie soll mehr Chancen für Migranten und Hauptschüler bringen. Acht von zehn Berliner Hauptschulen gelten unter Forschern als Marienthalschulen – das sind Schulen der Hoffnungslosigkeit. Inzwischen folgen alle Stadtstaaten der Berliner Linie, auch in den ersten Flächenländern beginnt man, sich auf eine demokratische Schulstruktur zuzubewegen. Eleganter, aber erbitterter Gegner dieser Reformen ist: André Schindler.
Zehntausende Menschen in der Stadt warten voller Hoffnung auf die überfällige Umgestaltung einer Schule, die in ihren Grundstrukturen noch aus dem 19. Jahrhundert stammt. Sie haben eine Recht darauf, dass die Spitze ihrer organisierten Elternschaft diese Reformen kritisch begleitet. Aber sie haben es nicht verdient, dass ihr höchster Repräsentant mit zweifelhaften Methoden und aus der Landeselternvertretung heraus gegen diese anerkannte Reform Fundamentalopposition betreibt.
André Schindler ist ein verletzter Elitist, der in die Politik gehen sollte. Als Landeselternboß aber sollte er aufhören. Wählt ihn endlich ab!