20.10.2009
17:56

Doku Koalitionsvertrag in Kiel: Wie weiter mit den Gemeinschaftsschulen?

Weniger individuelles Lernen - mehr äußere Differenzierung

Kiel hatte mit der Einführung der Gemeinschaftsschule vor drei Jahren eine neue Marke geschaffen: Lasst uns die KMK-Gesamtschule mit ihren leidigen A-. B-, C-Kursen überwinden. Schwarz-Rot unterstützte aktiv Schulgemeinden, die ein neues Lernen in ihren Unterricht bringen wollen. Das bedeutete die Abkehr von einer frontalen Unterrichtskultur. 

Nun ist Schwarz-Rot zuende und Schwarz-Gelb hat sich erneut auf die Fahnen geschrieben, Bildung besonders zu fördern. Es ist allerdings noch nicht klar, was nun werden wird. Der Koalitionsvertrag lässt wenig Gutes hoffen. Das Schulsystem solle in Ruhe gelassen werden.

"Unsere Schulen Zeit und Ruhe, um vernünftig arbeiten zu können", 


steht in dem Papier, das pisaversteher hier dokumentiert, damit sich jeder ein Bild machen kann. fuellers bureau neue schule

18.10.2009
12:17

Eine bildungspolitische Todsünde

Kiel führt die Realschule wieder ein – und die Schulreform ad absurdum

Jetzt ist es also amtlich: Die neue schwarze-gelbe Koalition in Kiel wird die Realschule wieder einführen.

Sie begeht damit eine bildungspolitische Todsünde. Warum?

Nein, es geht nicht darum, dass die Realschule an sich etwas schreckliches wäre. Aber wer eine Schulreform, die keine vier Jahre alt ist, mittendrin abrupt wieder zurückfährt, der hat nicht verstanden, welche Verunsicherung er damit in die Elternschaft träg. Man kann sich auf Bildungspolitik nicht verlassen.

Die CDU in Person von Herrn Carstensen ist eine zutiefst unglaubwürdige Partei. Der Peter Harry ist ein Halodri: Er hat persönlich dafür eingestanden, die schwarz-rote Schulstrukturreform nicht wieder zurückzudrehen. Er hat dieses Versprechen nicht gehalten. Wer soll einem Regierungschef Vertrauen, der sein Amt mit einem Schwindel antritt?

Die großen Schulstrukturreformen in den Niederlanden und Finnland sind selbstverständlich überparteilich beschlossen worden; und man hat sie in den Grundzügen über viele Jahre nicht angetastet. Etwas ähnliches geschah übrigens in Hamburg. Die dortige Strukturreform wurde überparteilich in einer Enquete-Kommission vorbereitet und in ihren Grundzügen beschlossen.

Wieso ist die Wiedereinführung der Realschule in Schleswig-Holstein praktisch ein komplettes Zurückdrehen der Strukturreform? Ganz einfach:

Wenn man in einem dreigliedrigen Schulsystem zwei der Glieder eine Bestandsgarantie gibt, dann konserviert man das ganze System.

Und man schwächt den damit verbundenen Prozeß des neuen Lernens. Individuelles Lernen ist nicht wie Schuhe binden: Es ist etwas Komplexes. Es bedarf der Vorbereitung und des Trainings, wenn man von einem 150-Jahre-alten Frontbeladungsstil weg will – hin zu einem Wahrnehmen und Entwickeln aller Talente, die es in einer Klasse gibt.

Ein FDP-Minister, der sagt: Die Realschule muss wieder her, hat von individuellem Lernen nichts verstanden. Er hat einfach eine andere Priorität.

Nicht das Überwinden der Schulstrukturen des 19. Jahrhunderts, sondern Klientelismus der billigsten Art.

Die neue Regierung in Kiel entzieht der Gemeinschaftsschule nicht nur das Vertrauen, sondern auch das intellektuelle Potenzial, das sie braucht. Pisaversteher meint, das ist das brutale Kalkül, das hinter der schwarz-gelben Logik steckt: Statt Gymnasium, Real- und Hauptschule soll es künftig in Schleswig-Holstein eben Gymnasium, Real- und Gemeinschaftsschule geben.

Die Marke Gemeinschaftschule soll zerstört werden, ehe sie sich etabliert.

Sie soll in den Augen der Bevölkerung zur neuen Hauptschule gemacht werden. Das ist das perfide dieser neuen Schulreform. Sie hat nichts mit Kiel zu tun - sie ist ein parteitaktisches Manöver. Die Gemeinschaftsschule findet Gefallen bei den Menschen. Aber ein rotes Experiment darf den Menschen nicht gefallen, daher geht schwarz-gelb nun mit gestrecktem Bein in die Schulreform. 

Die Gemeinschaftsschule ist ein wichtiges Instrument, der gesellschaftlichen Spaltung den Nährboden zu entziehen – indem man allen Kindern gleiche Chancen einräumt. Schwarz-gelb aber will weiter bestimmten Kindern schlechtere Startchancen ins Leben geben. 

13.10.2009
17:48

Heute schon am Sprechtrainer gehangen?

Auf dem Weg in Orwells Bildungsdiktatur

 

(Kommentar für Politikum WDR 5, 13 Oktober 2009) 

Diese Woche rollt wieder eine "Bildungs-ist-unser-ein-und-alles"-Welle durchs Land. Bei den Koalitionsverhandlungen in Bund und Ländern werden sämtliche Parteiführer ihr Mantra "Bildung, Bildung, Bildung!" schmettern. Zudem kamen gerade die neue Azubi-Zahlen, die nur auf den ersten Blick gut aussehen. "Nur" Zehntausend junge Leute bleiben ohne Ausbildungsstelle - das aber nur, weil die Zahl der Bewerber um fast 90.000 zurückgegangen ist.

Klar, Bildung ist wichtig. Aber vielleicht hilft uns das sinnfreie
Wortgeklingel der Politiker einmal einen Moment inne zu halten: Bildung
ist essenziell, bedeutet Zukunft, schafft Arbeit - aber bringt uns das
Dauer-Gegackere um vollkommene Bildung eigentlich weiter?

Wir stecken längst im Hamsterrad falsch verstandener Büffelei fest -- und in einer hermetischen Bildungsrhetorik.

Aus dem Lernen ist ein Höher, Schneller, Weiter geworden. Es regiert die
Methode Stopf-und-Press. Die ersten Verunglückten des Pauk-Zwangs sind
bereits zu beklagen. In München bezeichnen sich Drittklässlerinnen als
dumm und unfähig - nur weil sie nicht zur Spitzengruppe der
Einserschülerinnen gehören. In den G8-Turbogymnasien ist von den
klassischen Tugenden Weisheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit nichts mehr
übrig. Schon gar nicht von Mäßigung, die ja auch dazu gehört. Und nicht
wenige hastig reformierte Bachelorstudiengänge machen das Studium zu
einer geist- und ruhelosen Raserei.

Wenn wir nicht aufpassen, dann dräut uns nicht allein die von Juli Zeh
beschriebene GesundheitsMETHODE mit täglichem Lauf- und
Ertüchtigungssoll. Sondern dann wird eine Orwellsche Bildungsdiktatur
uns auch Lerneinheiten und Hirntrainings verbindlich vorschreiben. "Wann
haben Sie sich zuletzt an den Sprachentrainer angeschlossen?",
fragt
dann der Lern-Führungsoffizier - und trägt Fehlzeiten ins Logbuch ein.
Es reicht eben nicht, - wie der Berliner Bildungsenator - morgens um
sechs Uhr zenartig Texte zu memorieren. Man muss dann einen
langfristigen Plan erfüllen, mit Pflicht-Plackerei an Fortbildungsmodulen.


Kein Sorge. Hier will niemand die finsteren Ecken der Chancenlosigkeit
bewahren, die unser Staat künstlich herstellt. Es ist nicht hinnehmbar,
dass - legitimiert durch eine 150 Jahre alte Ideologie - Lerngettos
bewahrt werden. Wie etwa die Haupt- und Sonderschulen, die im 21.
Jahrhundert nichts verloren haben. Es darf nicht sein, dass die
Generation Hoffnungslosigkeit in einem "Übergangssystem" gehalten wird, das alles bietet - nur keine Übergänge in den Arbeitsmarkt.
Diese
staatlich organisierten Dümmermacher dürfen nicht bleiben. Das wäre
unfair und würde dem Grundgesetz nicht gerecht, das gleiche Startchancen für alle fordert.

Nur dürfen wir dennoch nicht glauben, dass "Bildung, Bildung über alles" die Probleme der Arbeit lösen könnte. Das kann gar nicht gehen, weil der Arbeitsmarkt moderner Gesellschaften immer ein knapper ist. Zu deutsch: Es gibt nie genug bezahlte Arbeit für alle - auch dann nicht, wenn wir den letzten Bildungsverlierer zum Professor durchqualifiziert haben.

Aber es nutzt auch aus pädagogischer Sicht nichts, den einzelnen zu
seinem Bildungsglück zwingen zu wollen. Das missachtete den obersten
Grundsatz, der nirgendwo besser gelebt wird als in den guten
Kindergärten und Grundschulen: der unbedingte Respekt vor dem einzelnen, vor seinen Hindernissen und Beschränkungen genau wie vor seinen Talenten und seiner Intelligenz.

 
12.10.2009
08:55

Bildungsarmut und pädagogische Armut

Mit Spaß am Lernen weniger Bildungsverlierer produzieren

In Talkshows erzählen Politiker gerne Märchen.

"Die Hauptschulen werden dort angenommen, wo die Eltern merken, dass man sich um sie kümmert",

sagte dieser Tage Armin Laschet (CDU) bei Maybritt Illner im TV. Man weiß nicht recht, wo der Integrationsminister Nordrhein-Westfalens diesen Effekt beobachtet hat. In seinem Bundesland jedenfalls kann das nicht sein. Die Leute laufen dort der Hauptschule in Scharen davon.

Um 37 Prozent ist die Schülerzahl an den NRW-Hauptschulen seit 2001 zurückgegangen. Und die Eltern haben ja recht, die Hauptschule zu meiden. Denn dort herrscht bittere Bildungsarmut. Jeder zweite Hauptschüler NRW kann praktisch nicht lesen.

Beim Tag der Offenen Tür einer Berliner Grundschule warnen Lehrerinnen indes offen vor dem Gymnasium. Zu viel Druck, zu wenig pädagogische Möglichkeiten - das achtjährige Turbogymnasium verschreckt nicht wenige Eltern. Denn ihre Kinder haben teilweise 36 bis 38 Unterrichtsstunden pro Woche. Sie verlieren wegen der Schule Freunde und müssen Hobbies aufgeben. Im Gymnasium geht Lernen nach der Methode Press und Stopf, es herrscht bittere pädagogische Armut.

Hat die Bildungsarmut der Hauptschule etwas mit der pädagogischen Armut des Gymnasiums zu tun?

Auf den ersten Blick sind das zwei völlig verschiedene Paar Stiefel. Bei näherem Hinsehen erkennt man: das eine bedingt das andere. In der vierten Klasse wird die Schülerschaft sortiert. Die schlechten in die Hauptschule, die guten ins Gymnasium. Das produziert die berüchtigten "differenziellen Lernmilieus", wie sie der Max-Planck-Direktor Jürgen Baumert entdeckt hat. Zu deutsch: Soziale Umgebungen, die für das Lernen besonders förderlich sind - oder besonders schädlich.

Nicht umsonst heißen Hauptschulen bei Wissenschaftlern mittlerweile "Marienthalschulen", also Schulen der Hoffnungslosigkeit. Die Gymnasien brauchen sich derweil pädagogisch gar nicht besonders anstrengen. Sie haben das beste Schülermaterial und wenn einer nicht mitkommt, dann fliegt er eben, pardon: wird abgeschult. Die Bildungsarmut der Hauptschule und die pädagogische Tristesse der Penne sind zwei Seiten einer Medaille.

Was kann man tun? Gibt es einen Ausweg aus dieser Zwickmühle? Natürlich gibt es das, die guten Schulen beweisen es.

Es haben sich inzwischen Schulen in Deutschland gebildet, die schlauer sind. Sie verzichten auf eine simple Trennung der Schülerschaft, sondern verfahren nach dem Motto: Kein Kind bleibt zurück.

Das bedeutet zugleich, dass der Unterricht besser werden muss, genauer das Lernen. Und so ist es. Die guten Schulen, welchen die Bosch-Stiftung den Schulpreis verleiht, haben minimale Zahlen an Bildungsverlierern - und zeichnen sich durch eine hohe pädagogische Kompetenz aus. Dort macht Lernen wirklich Spaß. In Freiarbeit, mit Wochenplänen, in neuen Lernwerkstätten und -büros. Und, das wichtigste: Bei großen Lernprojekten und Studienreisen.

Die Schulpreisschulen sind so gut, dass inzwischen finnische Delegationen dort hospitieren - um zu lernen, wie die Deutschen gute Schule machen.

09.10.2009
08:21

Wer die Hauptschule erhält, kann neues Lernen nicht lernen

Und auch Laschet erzählt den Hauptschulkäse

Armin Laschet war mal ´n cooler CDUler. Immer ein bisschen schräg, immer ein bisschen anders. Integrationsminister in NRW. Inzwischen plappert er den selben Unsinn wie Deutschlands großartigste Schuliministerin, Barbara Sommer. 

Im TV (Maybritt Illner, 8.10.) meinte Laschet:

"Die Hauptschulen werden dort angenommen, wo die Eltern merken, dass man sich um sie kümmert."

In NRW gebe es deshalb übrigens auch noch Hauptschulen. Nun gut, über Sterbende soll man keine Witze machen. Und die Hauptschule an Rhein und Ruhr ist nunmal - am Ende.

In Nordrhein-Westfalen wird gerade die letzte Runde der Hauptschule eingeläutet. Es finden sich dort Kommunen, in den noch ganze 4 Prozent Hauptschüler zu finden sind. Orte, in denen 13, 15 oder 19 Kinder in diese Schulform geschickt werden.(>>> siehe Hauptschule: Ende einer Schulform)

Es ist klar, was geschehen wird: Diese Gemeinden werden ihre Schule verlieren. Definitiv, jeder weiß das. Nur zwei wollen es nicht wahrhaben: Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) und seine chaotische Schulministerin Barbara Sommer. Sie sind Ideologen, denn sie versuchen eine Idee gegen die Wirklichkeit zu verteidigen.

Lange Zeit mussten sich die Apologeten der Gesamtschule von Rüttgers&Co als Ideologen denunzieren lassen. Heute krallen sich die Schulverantwortlichen in den großen Flächenländern des Westens an einer Schulform und einem Qualifikationsideal fest, das aus dem 19. Jahrhundert stammt.

In Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Baden-Württemberg tun die Regierungen so, als gäbe es eine natürliche praktische Begabung, die bestimmte Kinder zum Goldenen Handwerk führte. Das ist in jeder Hinsicht Quatsch. Das Potenzial, das sie haben, ist Kindern eben nicht an der Nasenspitze abzulesen. Schulen sind dazu da, es zu fördern und zu entwickeln - und nicht um Zehnjährige auszusortieren.

Diese Schulideologie ist mehr als eine Fußnote der Geschichte, sie schadet der Zukunft vieler Kinder. Anstatt die röchelnde Hauptschule künstlich zu beatmen, müssten die Kultusminister die Lehrer auf das neue Lernen vorbereiten.

Wer eine heterogene Schülerschaft gemeinsam unterrichten will, der muss das erst lernen. Viele Lehrer -- Videostudien zeigen das -- praktizieren noch jenen Unterricht, den wir aus der Feuerzangenbowle kennen: Frontal, einer an alle, Wissen eintrichternd. Dieses gleichmacherische Lernen aber taugt nicht mehr.

Moderne Schulen stellen den einzelnen Schüler in den Mittelpunkt des Lernens, sie versuchen seine Potenziale und seine Kreativität zu entwickeln. Dafür gibt es längst Lehrformen wie Freiarbeit, große Projekte oder Lernbüros. Nur werden sie noch viel zu wenig kultiviert.
Es ist das große Versäumnis der Kultusminister, dass sich das Land seit vielen Jahren darüber streitet, ob die Hauptschule wirklich stirbt. Dabei ist sie längst tot. - Das Problem ist: Das individuelle und selbständige Lernen ist noch nicht lebendig genug. Höchste Zeit, ihm alle Aufmerksamkeit zu schenken.

pisaversteher.de