07.10.2009
17:56

Emily - oder das Ende der Kindheit

Das bayerische Grundschulabitur empört die Eltern

Bayerns Eltern sind einiges gewohnt an Drill und Leistungsanforderungen. Aber jetzt wird es sogar ihnen zuviel. Die weiß-blauen Landesherren haben die Prüfungen in den 4. Klassen neu geordnet. Damit alles schön vergleichbar, gerecht und gerichtsfest zugeht, werden 22 Proben für den Sprung aufs Gymnasium verbindlich festgelegt. Der Freiraum der Lehrer schrumpft gegen Null.

Der Lehrerverband BLLV ärgert sich über das neue "Grundschul-Abitur". Und unter den Eltern baut sich eine regelrechte Wutwelle auf. Sie sind empört, was ihren 8- bis 10jährigen Kindern alles abverlangt wird: Der Notendruck in der Grundschule ist so stark wie man es bislang nur im Turbo-Gymnasium gewohnt war. Sogar der konservative Münchener Merkur regt sich auf. 

„Emily hat Reiten aufgehört“ - weil ihr der Stress in der Schule zu viel ist. In diesem Satz der Mutter einer Drittklässlerin steckt nicht allein der exaltierte Anspruch bildungsbeflissener Eltern. Es ist das Ende der Kindheit, von dem zu berichten ist.

Gerade in der prosperierenden Region um München gilt es subjektiv als Schande, sein Kind nicht aufs Gymnasium zu bringen. Es ist den Leuten aber auch ein objektives Problem, wenn ihre Kinder es nicht aufs Gymnasium schaffen. Sie wissen, welche Superjobs man in München haben muss, um in der Hauptstadt der Schickeria gut leben zu können. Die Folge ist Druck, Druck, Druck. 

Die Lehrerin verpasst Emily eine Zwei, obwohl sie keinen Fehler hat in einer kleinen Geschichte. Die Mutter wundert sich. Jetzt könnte man sagen, „Ach Gottchen, eine Zwei, das ist doch auch was schönes!“ Ja, aber im Vierjahresrennen zum Abi ist die Zwei ein Problem. Für die Eltern, weil sie für ihr Kind die verdiente Eins haben wollen. Für Emily, weil sie wieder nicht die Leistungen der drei besten Pferde im Stall gebracht hat. Emily hält sich nun tatsächlich für blöd.

Was ist das eigentlich für eine Schule, die Kindern das Gefühl vermittelt, sie seien dumm?

Die Lernsituation in Münchens Grundschulen nimmt tragikkomische Züge an. Eine Lehrerin gibt den Eltern bekannt, dass die Zeit in der Schule fürs Erklären des Stoffs oft nicht mehr ausreiche. Eine andere gibt dem Kind eine Hausaufgabe mit, die durch nichts vorbereitet ist. Es ist schlicht der Lernstoff – den nun die Eltern dem Kind beibringen sollen. Als die Mutter das Kind fragt, wie die Lehrerin es erklärt hat, sagt sie: „Sie hat es gar nicht gemacht, du sollst es machen.“ In der Woche drauf soll das Zuhaus-Erlernte in einer Probe abgefragt werden.

Wozu ist Schule da – wenn nicht zum Erklären? 

Für Eltern und Kinder baut sich eine schier ausweglose Situation auf. Sie sehen ihre Lieben in einem zermürbenden Leistungswettlauf. Aber die vierte Klasse ist nunmal die magische Grenze. Wer hier Misserfolg hat, verpasst den Sprung aufs Gymnasium. Und dort wird der Kampf ja weiter gehen. Etwas anderes als das Achtjahres-Stopf-und-Press-Abitur wird in München nicht angeboten. Es gibt eine einzige Gesamtschule in der ganzen Region. Das heißt, Wettbewerb geht hier schon ab sieben Jahren über alles. Passenderweise, bekommt Emily eine Strafarbeit aufgebrummt. Was hat sie Böses getan? Sie hat ihrer Tischnachbarin bei einer Probe mit einem Tintenkiller ausgeholfen.

Was ist das für eine Schule, die Teamarbeit bestraft? 

Alle fragen, was kann man machen? Die Antwort ist einfach: Erstens – von zuhause nicht zusätzlichen Druck auf die Kinder ausüben. Zweitens – die Noten abschaffen. Drittens – endlich den Übergang auf die weiterführenden Schulen auf die sechste oder, besser, die achte Klasse verschieben. Viertens – Alternativen zum Turbo-Abi aufbauen. Kurz: Gute Schule machen.

Und: Sich mit dem BLLV gegen die Situation wehren.

05.10.2009
00:35

"Das Gymnnasium reformiert sich - oder es geht unter"

Der Abi-Monopolist wankt

Vor wenigen Tagen hat der Erziehungswissenschaftler Peter J. Brenner das Gymnasium „als deutsche Erfolgsgeschichte“ gefeiert. Brenner sollte wissen, wovon er redet, denn er ist Geschäftsführer der viel gelobten neuen Lehrerbildung an der TU München. Der spektakulärste Satz des Pädagogikprofessor war ausgerechnet dieser:

„Ein Drittel der alle Studenten an deutschen Universitäten sind nicht studierfähig.“

- Was gerade kein Leistungsnachweis fürs Gymnasium ist – immerhin ist es praktisch der Monopolist für die Hochschulreife.

Brenners Problem ist, dass er einfach den falschen Titel gewählt hat. Das deutsche Gymnasium ist längst keine Heldensaga mehr - besonders im internationalen Vergleich. Andere Staaten produzieren viel mehr Spitzenschüler als Deutschland. Beim Lesen etwa liegen Korea (22 Prozent), Finnland, Kanada und Neuseeland (>14 Prozent) weit vor Deutschland, dass nicht einmal 10 Prozent Spitzenschüler aus seinen Schulen entlässt. Das Gymnasium will eine spezielle Elitetrainingsanstalt für die besten Schüler sein. Allein, es hilft nichts. All die Vergleichsländer an der Spitze schaffen mit Gesamtschulen 50 bis 100Prozent mehr Topleser. Das heißt: Das Gymnasium bekommt die besten Schüler, das meiste Geld und die besten Lehrer – aber es macht zu wenig daraus!

Unter Eingeweihten gilt das Gymnasium längst als der Sündenfall der deutschen Schule. Damit die Elite leichter lernen kann, werden langsamere oder vermeintlich minderbegabte Schüler auf niedrigere Schulformen verbannt. Den Preis dafür, dass ein Teil der Schülerschaft unbeschwert lernen kann, zahlen die Hauptschulen – dort entstehen sogenannte „differenzielle Lernmilieus“. Das heißt: Dort herrschen andere, nämlich viel schlechtere Lernbedingungen.

Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung nennt das eine „doppelte Benachteiligung“: Erst werden die Kinder von Arbeitern, Ungelernten und Migranten gezielt in niedrige Schulformen gelotst. Dort entsteht dann ein soziales Milieu, das Lernwillen und -freude weiter herunterdimmt. Es ist die Frage: Darf ein Staat, der laut Verfassung alle Bürger gleich behandelt, so etwas eigentlich tun? Wir meinen: Er darf nicht.

Aber die Dämmerung des Gymnasiums hat definitiv begonnen. Die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre hat das darwinistische Prinzip des Gymnasiums auf die Spitze getrieben – so weit, dass auch das Bürgertum seine Lieblingsschule harsch kritisiert oder ihm sogar den Rücken kehrt. Gymnasien wie das Elsa-Brändström in Oberhausen oder das Friedrich-Schiller in Marbach denken um. Sie verändern die Lernformen. Und sie haben ein neues Prinzip: Statt „Wer-hier-nicht-mitkommt-fliegt-raus“ heißt es dort: „Jeder kommt ans Ziel“. Der Marbacher Rektor Günter Offermann, dessen Gymnasium 2007 den Deutschen Schulpreis gewann, sagt:

„Das Gymnasium reformiert sich – oder es geht unter.“

Christian Füller diskutiert die Schwäche des Gymnasiums und sein Buch „Die Gute Schule“ heute (Montag 19 Uhr) im Pestalozzi-Gymnasium in München

26.09.2009
11:19

neue schule wolfsburg: wermutstropfen in den vw-jubel

Dzeko, und Grafite vs. Schule

Heute wird die Neue Schule Wolfsburg mit viel Tamtam eingeweiht. Diese Schule ist ein Geschenk von VW an die Stadt Wolfsburg. Das Ehepaar Piech wird der Schule im Lauf des Tages einen VW-Transporter schenken. 

Diese Meldung hinterlässt pisaversteher wie alle Freunde des modernen Lernens mit gemischten Gefühlen. Ja, es ist wunderbar, dass es diese Schule gibt. Hier wurde mit intelligenten Leuten ein Konzept für die Zukunft entworfen. In der Schule arbeiten engagierte PädagogInnen, die Erfahrung mit dem inidviduellem Lernen haben. Mit Helga Boldt wurde ein hevorragende Rektorin gewonnen. Das Schulgeld ist bezahlbar, und man hat keine Eliteschmiede für VW-Bosse daraus gemacht. Man wird von dieser Schule viel lernen können. Und natürlich ist es gut, dass VW hinter dieser Schule steht.

Aber wieso muss der VW-Konzern eigentlich so viel Wind machen FÜR EINE NEUE SCHULE?

Es ist und bleibt EINE Schule, die der größte Autobauer Europas da für drei Jahre grundfinanziert. Die Bilanzsumme des Konzerns, der Nutzen, den er aus den Mitarbeitern in Wolfsburg und der Stadt zieht, steht in keinem Verhältnis zu dem Engagement an der Neuen Schule.

VW fördert das richtige Konzept, aber VW ist zugleich mickrig.

"Wir fördern hier ein Schulkonzept, das Neugier, Forschergeist und Freude am Lernen in den Mittelpunkt stellt", sagt der Personalvorstand von VW heute. VW wird sich noch umgucken, dass es schneller und energischer fördern muss - sonst gehen ihm die qualifizierten Arbeiter aus, um aus VW den größten und intelligentesten PKW-Hersteller der Welt zu machen. In der Region Salzgitter hat - auch für VW - der Kampf um die wenigen verbliebenen Kinder bereits begonnen. 

Mit einer neuen Schule wird man den war for talents nicht gewinnen.

VW gibt für diese Schule wahrscheinlich rund eine Million Euro aus, wenn überhaupt. pisaversteher findet,

der einzige Rohstoff, den das Land hat, Wissen und kreative Kinder, sollte VW so viel Wert sein wie, sagen wir, das Jahressalär von Edin Dzeko oder Grafite.

Dann wäre den Schulen mehr geholfen.

 

 

 

25.09.2009
17:03

Große Mehrheit findet Schulsystem veraltet - und will es ändern

Zu früh getrennt

Annette Schavan tut es, der Philologenverband tut es und auch Forsa tut es: Alle verkünden sie gerade, dass eine Mehrheit der Deutschen gegen die Einheitsschule sei. (63 Prozent) Und selbst bei den SPD-Anhängern über die Hälfte findet, "das bisherige Bildungssystem sollte beibehalten werden". 

Das sieht schlagend aus, zumal bei den jüngeren die Anghängerschaft für eine Schule für alle besonders gering ist. Nur 24 Prozent der 18-29jährigen sagten Forsa am 16. September, sie seien für die Einheitsschule.

Wer wissen will, wie schul-reformfreudig das Land tatsächlich ist muss - bei Forsa nachschauen. Denn erst im Juni hatte Forsa im Auftrag der Zeitschrift Eltern 1.000 junge Mütter und Väter befragt - und eine überwältigende Reformbereitschaft entdeckt.

91 Prozent fordern darin, das Bildungssystem in den Ländern zu vereinheitlichen - zwei Drittel finden das System "grundsätzlich veraltet." 

Selbst bei der Reformrichtung sind die Eltern eindeutig. 64 Prozent der Leute finden, dass die Trennung der Kinder auf verschiedene Schulformen zu früh erfolgt.

Wie lässt sich die verwirrende Gemengelage erklären. Wollen die Bürger das System ändern - oder soll alles bleiben, wie es ist?

Es hängt an den Begriffen und den Befragten. Der Philogenverband packte den Begriff der Einheitsschule in die Frage - ein Kampfbegriff, mit dem man die sozialistische Einheitsschule der DDR einst schmähte. Kein Wunder also, dass die befragten Bürger so was nicht wollen. Was ist eine Einheitschule eigentlich? pisaversteher kennt keine, allenfalls die sehr beliebten Gemeinschaftsschulen, die es in Schleswig-Holstein und Berlin schaffen, Eltern und Schulträger zu überzeugen.

 Es könnte auch sein, dass junge Eltern eben sensibler auf die Misserfolge der Bildungspolitik reagieren. 

17.09.2009
12:43

Migranten in der gegliederten Schule

Bildungsklick und Philologen täuschen sich

Bildungsklick verbreitet eine Meldung des bayerischen Philologenverbandes:

"Gegliedertes Bildungssystem für Migrantenkinder aus unteren Bildungsschichten vorteilhaft ..."

Pisaversteher hat nachgefragt - und, siehe da, der Forscher aus dem einschlägigen Projekt verneint: "Die Aussage, dass das gegliederte Schulsystem den Migranten per se etwas bringt, ist anhand der von uns durchgeführten Studie 'Bildungsentscheidungen in Migrantenfamilien' nicht zulässig." 

Nach dem bayerischen Philologenchef Max Schmidt bringt das dreigliedrige Schulsystem für Migrantenkinder Vorteile. Schmidt beruft sich auf eine Aussage von Hartmut Esser, einem Migrationsforscher aus Mannheim.

"Ein gegliedertes Bildungssystem nutzt beim sozialen Aufstieg gerade den Migrantenkindern aus den unteren Bildungsschichten (...)."

Hartmut Esser sagte pisaversteher, er habe mit dem Zitat etwas anderes gesagt: "Dass die Migrantenkinder von den gegliederten Systemen nicht mehr benachteiligt sind als die anderen (Kinder) - wenn man berücksichtigt, welches Bildungssystem ihr Herkunftsland hat." 

Esser nennt das Zitat eine verunglückte Zwischenüberschrift der Redaktion der FAZ, in der er über die gut gemeinten, aber oft verfehlten Förderprogramme für Migranten berichtet hatte. (FAZ: "Modell, Versuch und Irrtum", v. 29. Juli 2009) Esser verweist auch auf Jaap Donkers, der in einer Studie eine interessante Erkenntnis zutage förderte: Für Migrantenkinder seien die schwach gegliederten Bildungssysteme am besten - am schlechtesten die stark gegliederten. "Also: wieder mal eine interessante Differenzierung." Das deutsche Systrem gilt weltweit als eines der am stärksten gegliederten. 

Auch der Mannheimer Forscher Jörg Dollmann aus dem Projekt Bildungsentscheidungen in Migrantenfamilien, der mit Esser zusammen arbeitet, kann diese Aussage aus seinen Untersuchungen so nicht bestätigen.

Dollmann sagte pisaversteher, Migrantenfamilien nutzten die Übergangspunkte im gegliederten System besser als Familien anderer Herkunft. Das hat mit deren hohen Bildungsaspirationen zu tun. Allerdings hat Dollmann nicht Bildungssysteme verglichen, sondern das Verhalten von Familien verschiedener Herkunft im gegliederten Schulwesen

Siehe auch Bildungsklick

pisaversteher.de