Schulstruktur bedingt Lernqualität
oder: Die Sartre´sche Freiheit von @herrrlarbig und @phbudde
Als der forsche Herr Dräger, der gerade ein Buch über Bildungsarmut im Lande Goethes schrieb („Dichter, Denker, Schulversager“) in einem Interview nach der Schulstruktur in Hamburg gefragt wird, macht er den Philipp Lahm – er zieht sofort zurück. „Ich halte längeres gemeinsames Lernen für machbar, aber nicht nötig.“ Guter Unterricht hänge am Lehrer. "Die Schulstruktur ist letztlich egal."
Amen. Was für eine Binse: Längeres gemeinsames Lernen ist möglich! Muss man dafür ein Buch schreiben? In Deutschland ja. Und es dauert zehn Jahre, bis Dräger erkennt, was Christoph Daum in zwei Nächten nach Pisa herausfand: Dass der schiefe deutsche Pisa-Turm unten schief ist und nicht oben. Da spannende ist, dass aber der wichtige Konnex wieder negiert wird. Denn die Struktur ist überhaupt nicht egal.
Schulstruktur und Lernen bedingen sich.
Schulstruktur und Lernen bedingen sich. Nicht so, dass man in einer schlechten Struktur nicht guten Unterricht machen könnte. (Was Leute wie @HerrLarbig sofort auf die Palme bringt, weil er diesen Umkehrschluss zieht: Schlechte Struktur ist automatisch schlechter Lehrer.)
Nein, hier geht es nicht um Lehrerbeleidigung, sondern um einen Vorgang, der auf der flachen Hand liegt: Ein Lehrer wird, so gut oder schlecht er sein mag, in seinem Lernen durch die Schulstruktur stark und permanent beeinflusst: Er muss in der vierten Klasse zu sieben beginnen. Er muss mit Noten arbeiten, denn irgendwie muss der Auslesebefehl der Schulstruktur ja zustellbar sein. Er sitzt hinfort sein Leben lang vor homogenisierten Gruppen, sprich in nach Haupt-, Real- und Oberschule (Gymnasium) ausgelesenen Lerneinheiten, die er nach den Locksteps des Lehrplans gleichschreiten lässt. Na, hoffentlich beeinflusst das sein Lehren nicht!
Homogene Gruppen?
Natürlich sind die Gruppen nicht wirklich homogen, es gibt keine homogene Lerngruppe, sobald mehr als ein Lerner im Raum ist. Kurz gesagt: Das Lernarrangement ist durch die Schulstruktur vorperforiert; die Freiheit des Lehrers ist die Sartre'sche Freiheit des Gefolterten, im inneren Nein zur Folter zu sagen, auch wenn sie ihm äußerlich äußerste Schmerzen bereitet. Kein Wunder, dass @HerrLarbig sagt: "Das heißt nicht, dass die Struktur egal wäre, doch gute Lehrer verzehren sich nicht in ewiger Klage."
Das ist das Schicksal des Lehrers, über das wir nicht weiter räsonnieren wollen. Das kostet zu viele Follower. (Und auch nicht dürfen, in memoriam @phbudde. Denn über den öffentlichen Beruf des Lehrers darf nur der Lehrer nachdenken, nicht etwa der gemeine Bürger.)
Ein Team - aus Individualisten
Aber wir dürfen noch einen Satz über das Schulsystem verlieren. Nur in einem kollaborativen Schulsystem, das heißt, einem nicht vorsortierten, hat der Lehrer einen Anlass, seinen Unterricht wirklich grundlegend umzustellen: Weil er viel mehr Freiheiten hat, er ist frei von einem Sortierbefehl, frei von Noten, freier von einem Lehrplan (den es hoffentlich bald so nicht mehr geben wird). Und weil er die großartige Aufgabe jedes Trainers vor sich hat. Aus einer heterogenen Gruppe von Einzelspielern unter Wahrung ihrer höchst individuellen Fähigkeiten ein Team zu bilden.
Bestandsschutz fürs industrielle Lernen
Oder, auf ein Praxisbeispiel angewandt: Eine Schul-Strukturreform, wie sie in Rheinland-Pfalz im Duktus "Wir sind die besten und schnellsten" vorexerziert wird, ist keine echte Bildungsreform. (Sie auch ciffis LaborBlog) Sie schiebt die Lerngruppen Haupt- und Realschule nur unter ein Dach, aber sie führt nicht wirklich zusammen. Die Realschule plus, die teilweise den Klassen der alten Realschulen Bestandsschutz gibt, also Hauptschülern de facto den Zuzug nicht erlaubt, begeht eine Menschenrechtsverletzung (Gleiche Bildung für alle). Das ist zugleich ein Bestandsschutz fürs industrielle Lernen. Die Schule wird einer Modernisierungschance beraubt: Mit einem anderen Lernen die individuellen Potenziale aller Schüler heraus zu kitzeln. Oder: Dass man auch in deutschen Schulklassen endlich so individuell zusammenspielen kann wie in spanischen Mannschaften - ohne dass alles von außen durch eine (unpädagogische) Struktur determiniert wird.
Nichts anderes wollte Philipp Lahm nämlich sagen, als er über die strategisch-taktischen Fähigkeiten seiner Trainer herzog. Äh, pardon, wir meinen natürlich Jörg Dräger, den jüngsten und besten Mann, den wir in der Bildung haben. Genauer hatten. All' die wichtigen Sätze über koopetitives Spielen, über Mannschaftsumbau und Taktikwechsel, über individuelle UND kollektive Fähigkeiten kann er nun nicht mehr sagen. Da er zwar nach zehn Jahren zu einer wichtigen Erkenntnis kam – aber gleich in seinem ersten Interview die Freiheit des Denkens wieder einstellte. Schade.
Bildung - der letzte Hort der Ideologie
Schulstadträtin blockiert Schulentwicklung
Bis gestern abend wusste ich nicht, was Ideologie ist. So lautete mein Tweet heute morgen, als ich immer noch Kopfschmerzen hatte vom Auftritt einer Schulstadträtin aus Berlin. So etwas bockbeinig Ideologisches habe ich noch nicht erlebt. Ich muss das erläutern, weil man da viel über Schule und Psychologie lernen kann.
Höch und Greenwich wollen zusammen gehen
In Reinickendorf, einem Berliner Bezirk, gibt es zwei Schulen, die sich zu einer Gemeinschaftsschule zusammentun wollen. Die Grundschule namens Hannah Höch-Schule ist eine sehr gute Schule, die seit Jahren gute Erfahrungen mit Lernbüros und heterogenen Lerngruppen macht. Die weiterführende Schule, Greenwich-Oberschule, wurde vor zehn Jahren gegründet, um irgendwann mit der Höch zu verschmelzen. Die Höch wie die Greenwich machen Schule in komplexer sozialer Lage des Märkischen Viertels, mehr als die Hälfte der Kinder kommen aus Migrationsfamilien bzw. Hilfeempfängern. Die Hannah-Höch-Schule verlassen nach sechs Jahren über 50 Prozent gymnasialempfohlener Kinder – und sie dann gehen weg in Gymnasien und damit in andere Sozialräume. Derweil bekommt die Greenwich-Schule nur die schwächeren Kinder aus der Höch und die kombiniert sie mit Langsamlernern, die ihr aus anderen Schulen zugewiesen werden. Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung würde dazu sagen: Es wird künstlich ein negatives Lernmilieu konstruiert, eine Verliererschule, in der sich die Kinder gegenseitig runter ziehen.
Alle wollen die Gemeinschaftsschule – nur einer nicht
Die beiden Schulen wollen diesen Teufelskreis durchbrechen, sie wollen zu einer Schule fusionieren, die Kindern beim Übergang KEINE Unterbrechung und KEINEN Schulwechsel mehr aufnötigt, sondern perspektivisch sogar das Abitur am Standort ermöglicht. Die Eltern wollen dieses Konzept, die Lehrer wollen es auch, vor Ort gibt es einen erfolgreichen Industriebetrieb, der die Schulen unterstützt, das Land Berlin gibt obendrein die Möglichkeit, die Schule umzuwandeln. Trotzdem ist das Zusammengehen der beiden Schulen verboten. Es wird verhindert durch eine Frau, die dummerweise die Schulstadträtin und damit die Schulträgerin ist.
"Meiner Überzeugung nach geht das nicht"
Diese Frau, Katrin Schultze-Berndt (CDU), war nun eingeladen in die Höch-Schule, um mit den Schulen ins Gespräch zu kommen – und es wurde ein Fest des Kant'schen Diktums vom selbstverschuldeten Nicht-Ausgang aus der Unmündigkeit. Frau Schultze-Berndt begründete ihre Ablehnung ausschließlich durch ihre ganz persönliche Überzeugung, dass das Lernen in integrierten Schulen nicht funktionieren kann. Grundsätzlich nicht, glaubt sie. Sie schickte ihrer Überzeugung voraus, dass das Land, regiert von Rot-Rot, das gegliederte Schulwesen zerschlagen wolle – und sie werde das in Reinickendorf qua ihres Amtes nicht zulassen.
Auch Hinweise, dass das gemischte Lernen in der Höch-Schule gut funktioniert und dass es nicht um ein abstraktes Schulsystem, sondern konkret um zwei Schulen vor Ort und die Entwicklung der Kinder dort gehe, konnten Katrin Schultze-Berndt nicht aus der Ruhe bringen. Sie zitierte eine Studie von Helmut Fend, die besagt, dass die kognitiven Leistungen, die Gesamtschüler erbringen, auf Dauer gesehen, sich abhängig vom Sozialstatus NICHT annähern. Mit anderen Worten: Bauernsohn bleibt irgendwie intellektuell immer Bauernsohn, Arzttochter macht stets irgendwie Karriere – das bleibt so, obwohl sie beide auf einer Gesamtschule waren.
Das kann zwar kein Argument gegen den Aufbau einer funktionierenden Schule sein, die auf den Schlag die soziale Mischung der Schule vor Ort verbessert. Aber darauf reagierte Schultze-Berndt mit der stereotypen Wiederholung, dass das Lernen in heterogenen Gruppen eben nicht klappen kann – ihrer Ansicht nach.
„Wir fühlen uns nicht ernst genommen“
Die Bürger verstanden Schultze-Berndt nicht. Sie sagten, „wir fühlen uns nicht ernst genommen“, sie sagten, „vertrauen sie doch uns, dass wir das wollen und können“, sie sagten, „sie haben gar nicht die Kompetenz uns das zu verbieten“, es sei rechtlich möglich, also solle sie sich dem Willen der Menschen nicht in den Weg stellen. Der anwesende Manager sagte, er stehe grundsätzlich der Union näher, aber er verstehe nicht, warum jemand seiner Parteipräferenz etwas gutes verhindern will, nur weil er es verhindern kann. „Wieso machen wir das nicht, wenn es erlaubt ist, wenn es gut ist und wenn alle es wollen? Ich jedenfalls werde in Reinickendorf nicht CDU wählen, und ich kann das auch niemandem empfehlen.“
Nicht mehr runter von der Palme
Es war vollkommen sinnlos Argumente auszutauschen. Die Stadträtin wollte nicht mehr runter von der Palme, auf die sie nunmal geklettert ist. Und die anderen waren so wütend, dass sie immerfort mit Kokosnüssen nach Schultze-Berndt warfen. Aber sie konnten nicht gar mehr treffen, weil sie inzwischen ganz weit oben auf der Palme sitzt, da kommt man nicht mehr ran.
Ideologie ist, das habe ich gelernt, wenn jemand mit seinem Glauben und seiner Überzeugung gegen die Wirklichkeit regiert – und dies offensichtlich auch deswegen tut, weil er damit andere ärgern kann. Eine solche Ideologie gibt es heute fast an keiner Stelle mehr - außer in der Bildung.
Das ist ein großes Problem. Denn wir müssen viele Schulen in Deutschland entwickeln, wir haben nicht mehr genug Kinder, um sie auf drei Schulformen aufzuteilen und im übrigen macht das Lernen in gemischten Gruppen mehr Spaß. Es ist pädagogisch interessanter und auch efolgreicher wie viele viele Schulsysteme auf der Welt zeigen. Aber wenn Schulreform von unten durch Ideologie vor Ort, gewissermaßen mit dem geistigen Baseballschläger, verhindert wird, dann stehen wir vor einer großen Herausforderung.
Gymnasium über alles
Wieso die Schulreformtexte aus dem SZ-Feuilleton nerven
Das Feuilleton der Süddeutschen hat wieder zugeschlagen. Burkhard Müller schreibt einen Text über die Bildungsreform. Es ist ein sehr gelehriges Stück, bei dem es teilweise mit dem Verständnis hapert, weil der Autor in einer Sprache spricht, bei der man ahnt: Es muss ihm um höhere Bildung gehen, ums Gymnasium und die Universität und den Verfall der Humboldtschen Sitten etc.
Den Pöbel ausschließen
Man hat sowas in der SZ öfter gelesen, und es ist auch immer die gleiche Spezies von Autoren, die diese Texte schreibt: Der höhere Feuilletonist, der seine Bildungsgüter dringend bewahrt wissen will - und auch geschützt vor einem Pöbel, der durch eine Einheitsschule oder solche Sachen in den Genuss jener Bildung kommen soll, die das Gymnasium von jeher für bestimmte, kleine Schichten reserviert hat. Dass es damit aus ist, kann sich mancher der Kulturschreiber nicht vorstellen, aber bitte.
Der letzte SZ-Mensch, der in dieser Richtung schrieb, war Johan Schloemann mit einem geradezu reaktionären Stück in der SZ am Wochenende im Februar 2010, wo er ziemlich explizit ein scharfe Verknappung des Bildungsguts für Geeignete forderte.
Spezialität gymnasialer Diskurse
Burkhard Müller macht es bisschen versteckter, es geht diesmal – auch das eine Spezialität gymnasialer Diskurse – um die Inhalte. Die Klage lautet: Die ganzen Bildungsreformen abstrahieren von den Inhalten, lehren solcherlei Dinge nur exemplarisch. Müller gipfelt in dem Satz:
„Um doch zu so etwas wie einer Synthese zu gelangen, müsste zuallererst einmal Übereinstimmung erreicht werden, was sich zu lernen lohnt, und zwar um seiner selbst willen. Unzutreffend ist, dass ein bestimmtes Wissen zu erwerben sich nicht mehr rentiere, da jegliches Wissen in kürzester Zeit der Veraltung verfalle. Auch in fünfzig Jahren noch werden die Sprachen im Großen und Ganzen nach demselben Muster funktionieren, werden die Nebenflüsse des Rheins noch sämtlich an Ort und Stelle sein und die Wiesenblumen überwiegend. Damit ist der harte Kern angedeutet, auf dem man beharren sollte und der sich gegebenenfalls aufstocken lässt.“
Mit anderen Worten: Es kommt auf einen Kanon an! Es muss verbindlich festgelegt werden, was zu lernen ist! Und dieser Kanon besteht aus, bitte gut festhalten! Sprachen, Nebenflüssen des Rheins und Wiesenblumen.
Kanon des 21. Jahrhunderts: Selbständigkeit
Man fragt sich wirklich, ob hier jemand nach hinten ins 19. Jahrhundert schreibt oder ob er sich schon mal die Frage gestellt hat, was Schüler und Jugendliche lernen und können sollten, das ihnen das Überleben im 21. Jahrhundert sichert. Ich bin mir – freundlich gesagt - nicht ganz sicher, ob die Kenntnis der Wiesenflora reicht, um sich für einen der nicht mehr lebenslangen, extrem auf Kreativität und Kommunikationsfähigkeit getrimmten Jobs zu qualifizieren, ob die Kenntnis der Nebenarme des Rheins genug Problemlösungskompetenz generiert, um den permanenten Krisen und Katastrophen, die uns heimsuchen, etwas entgegen zu setzen.
Bildungsreform als Backlash
Im Grunde ist der ganze Modus des Textes altbacken und sattsam bekannt. Er ergeht sich in der Klage, dass „alle Bildungsreform diese unergiebige, undialektische Gestalt des Pendelschlags oder Backlashs annimmt“ - also eitel und sinnlos sei. Das ist erstens ein Offenbarungseid: Ok, unsere Schule ist nicht gut, nicht gerecht, nicht gesund (für Schüler, Lehrer und Familien), aber ändern klappt ja irgendwie nicht. Also, lassen wirs!
Und zweitens kann meines Erachtens die Fokussierung Müllers auf einen Kanon keinerlei Gültigkeit mehr haben für eine Schule des 21. Jahrhunderts. Denn sie wird ganz anders aussehen. Sie hat keinen Kanon mehr – es ist nach den Explosionen des Wissens auch ganz unmöglich so etwas festzulegen. Sie hat auch niemanden mehr, der von vorne Kanones vorschreiben könnte. Sondern Schule wird Sinnsuche ermöglichen, indem Schüler sich die Themen – beraten von den Lehrern – weitgehend selber suchen, die sie bearbeiten wollen, genauer: die Krisen des Planeten setzen die Themen. Selbstverständlich wird es auch Stoffe geben, die verbindlich sind und die man auf eine moderne Art wird üben müssen: Es sind jene Kernkompetenzen, die wir gut beherrschen müssen – Schreiben, Lesen, Rechnen, gut Rechnen sogar, komplexe Zusammenhänge verstehen und analysieren. Die Sprachen, einzige Zustimmung, gehören sicher dazu.
Hauptschule als Teil der Schulreform
P.S. Man muss der Vollständigkeit halber sagen, dass Alex Rühle ganz anders drauf ist, auch er aus dem SZ-Feuilleton, der unter die Objekte von Bildungsreform tatsächlich auch Hauptschule subsummiert, z.B. in einem sehr schönen Stück über die Hauptschule.
European Tracking System
Und man muss, um den Kontrast herzustellen, die Texte aus anderen Ländern über Bildung heranziehen, etwa das fantastische Stück von Louis Menand im New Yorker jüngst. Dort besteht nicht die Kernfrage darin, wie man viele ausschließen kann, sondern wie man viele in Bildung, Lernen und Qualifikation einschließen kann. Dort herrscht auch Klarheit darüber, dass eine Beschränkung auf wenige eben der europäische Weg sei:
"This is the tracking approach. You don’t wait twenty years for the system to sort people out, and you don’t waste resources on students who won’t benefit from an academically advanced curriculum. You make a judgment much earlier, as early as middle school, and designate certain students to follow an academic track, which gives them a liberal education, and the rest to follow a professional or vocational track. This is the way it was done for most of the history of higher education in the West. It is still the way it’s done in Britain, France, and Germany."
Diskurs2.0 nur ohne Burka
Die taz macht am Freitag ein Pro und Contra zur Anonymität im Netz. Zusammen mit @flueke bestreite ich dieses Thema. Das Contra steht vorab bei pisaversteher.
Mein Verfolger ist eine multiple Persönlichkeit. Er löscht bei Wikipedia in einem Sachartikel alle neuen Textteile, er radiert sämtliche Fußnoten aus. Als Anonymus. Wenig später meldet er sich auf der taz-Kommentarspalte als fristian chrüller – und erzählt Märchen. Er loggt sich auch bei Twitter mit Maske ein.
Ich bin keine Celebrity, die einsam in einer 40-Zimmer-Villa lebt. Ich habe keine Angst vor meinem Verfolger. Aber er nervt trotzdem.
Mit Kapuzenpulli im Netz
Mein Verfolger ist ein Kind, ein Kind der Anonymität im Netz. Er findet heute witzig, was wir damals in der Schülerzeitung machten: Lehrer anonym derblecken. Aber er ist eben nicht 14 und hat Pickel, sondern ein erwachsener Mann, wissenschaftlicher Mitarbeiter einer Uni. Dennoch benimmt er sich wie ein Teenie in London. Nur dass er sich keinen Kapuzenpulli über die Stirn hängt, sondern mit immer neuen Avatar-Socken über der Nase digitale Brandsätze wirft, ein smart stalker.
„Ich schreibe anonym“, sagt er unschuldig, „da Argumente unterschiedlich wirken bzw. unterschiedlich wahrgenommen werden, je nachdem von wem sie kommen und ich meine Argumente im Raum und nicht deshalb abgetan wissen will, weil ich … in die Reformpädagogik-Ecke gehöre.“
Inkontinenter Anonymus
Wo sind wir denn? Kein Mensch muss als inkontinenter Anonymus durch Internetforen und Homepages streifen, um die Wirkung seiner „Argumente im Raum“ zu beschnuppern. Auf einer öffentlichen Veranstaltung würde er doch wohl oder übel hinstehen müssen („Hallo, ich bin der Axel“), um das Seine vorzutragen – und Gesicht zu zeigen.
Das ist eine durch und durch gute Idee. Das Netz braucht keine Anonymität, allenfalls sehr ausnahmsweise. Nicht nur für die bürgerliche Gesellschaft ist das konstitutiv, auch der Diskurs in Räten und Parlamenten, in Versammlungen und zu Tisch, kennt kein anderes Prinzip: Zu „ich spreche“ gehört notwendig das Ich. Wieso sollte diese Ratio der Aufklärung für das Netz nicht gelten?
Demokratischer Kodex
Kein Missverständnis. Ich möchte meinem Inkognito-Follower nicht den Bundesinnenminister auf den Hals hetzen. Ich brauche, anders als Hanns-Peter Friedrich, kein unwirksames Gesetz mit Alias-und-Anonymus-Verboten. Aber man wird wohl im superaufgeklärten Diskursraum Netz einen demokratischen Kodex erwarten können - Ausnahmen inklusive.
Ausnahme Pseudonym
Ein Forum von Betroffenen sexueller Gewalt etwa, wie das legendäre Misalla-Blog im Jahr 2010 eines war, muss geradezu mit Pseudonymen arbeiten. Offensichtlich ist auch, dass man Supermächte wie China, Exxon oder die Deutsche Bank nicht mit Angabe von Name, Adresse und Schuhgröße wirksam wird ärgern können. Die stets so hochgehaltene Mündigkeit der Netzcommunity aber wird sich an der Frage beweisen, ob sie eine politische Netiquette für den Diskurs in social media, Blogs und Foren zustande bringt. Das ist schwerer, als sich über die seltsamen Vorschläge eines Innenministers zu belustigen, wie es sich Blogger gerade sehr leicht machen. Aber es muss sein.
Für einen meinungsbildenden Diskurs2.0 braucht niemand Ku-Klux-Klan-Haube, Hasskappe oder Burka. Anonymität, sprich das Private, Geschützte muss selbstverständlich auch in der Informationsgesellschaft möglich sein. Aber da, wo Öffentlichkeit entsteht, wo Meinungsbildung stattfindet, ist´s aus mit Inkognito. Politik ohne Gesicht, wie soll das gehen?
Anonyme Originalität
Im Gegenteil. Jede Theorie ubiquitärer allzeitlicher kollaborativer Kommunikation hat als Mittel und Zweck – die Individualität. In der Masse zählt nur das unbedingt Originelle. Anonyme Originalität aber, das ist ein Widerspruch in sich. Also: Gesicht zeigen.
Die Kritikindustrie
Wo Kohn, Klonsky und Ravitch falsch liegen
[Ergänzung: Bei einem SOS-March für die amerikanischen Lehrer hat der Schauspieler Matt Damon eine bewegende Rede gehalten, er sagte u.a.
My teachers were EMPOWERED to teach me. Their time wasn’t taken up with a bunch of test prep — this silly drill and kill nonsense that any serious person knows doesn’t promote real learning. No, my teachers were free to approach me and every other kid in that classroom like an individual puzzle.
Die ganze Rede in der Washington Post]
Alfie Kohn gehört zu den eloquentesten und härtesten Krtikern des us-amerikanischen Wegs der Schulreform: Mit Vergleichs-Tests die Leistungen von Schülern und Lehrern zu messen und failing schools notfalls auch zu schließen. Kohn bildet mit Mike Klonsky und Diane Ravitch das Triumvirat der Schulreformkritik. Die drei twittern sich die Finger wund, um Obama und seinen Schulminister Arne Duncan unschulischer Umtriebe zu bezichtigen. Gerade hat Kohn wieder ein Interview gegeben, in dem er No Child Left Behind und Race To The Top in Grund und Boden stampfte.
Es ist betörend, Kohns Argumente zu lesen. Er ist ein jederzeit intrinsisch orientierter Lehrer und Pädagoge, er stellt das Kind in den Mittelpunkt allen seines Denkens. Allein, so komplex und spannend sein Kritik ist, simplizistisch ist seine Analyse, wie alles besser werden könnte: Gerade hat Kohn in einem Interview gemeint, man müsse Lehrer besser bezahlen, ihnen mehr Zeit geben und die Vergleichstests beenden. Denn:
"We are living through what future historians will surely describe as one of the darkest eras in American education -- a time when teachers, as well as the very idea of democratic public education, came under attack", sagt Kohn in dem lesenswerten Gespräch.
Nur fragt man sich, was war das eigentlich für ein Ära, als man Lehrer immer besser bezahlte, immer mehr von ihnen einstellte und NICHT fragte, was kommt eigentlich bei dem raus, was sie in der Schule treiben. Kurz: Als es Pisa noch nicht gab. Genau, es war die wirklich finsterste Zeit, eine Zeit nämlich, als Länder wie die USA oder Deutschland ganze Bataillone von Risikoschülern produzierten und sie in Arbeitslosigkeit und Sozialsysteme marschieren ließen.
Der Vergleich USA und Deutschland ist schulisch extrem kompliziert. Die pädagogischen Traditionen sind unterschiedlich, meines Erachtens findet in deutschen Klassen teilweise ziemlich guter Unterricht statt im Vergleich zu den USA. Auch ist das Testwesen in Nordamerika viel stärker und extrem außengesteuert. Dennoch überrascht es, wie Kohn mit mehr Zeit und mehr Geld für eine alte Lehrerschaft plötzlich ein neues Schulsystem schaffen will.
Kohns ambitioniertes Schreiben für neues Lernen in allen Ehren. Aber eines ist gewiss: Mehr Geld ins alte Schulsystem - das ist sicher der falscheste Weg. Er würde Ungleichheiten weiter zementieren und ein zutiefst ungerechtes Schulsystem zurück in den Dornröschenschlaf flöten.
Rupert Murdoch ist vielleicht nicht der Ratgeber erster Wahl, wenn es um Schulen geht. Aber sein Text jüngst in der FAZ weist pädagogisch mehr Perspektiven auf als Kohns Gewerkschaftsprogramm des Mehr und Teurer und Länger. Murdoch schreibt:
"Für jemanden, der heute nach fünfzigjährigem Schlaf aufwacht, sehen die Klassenzimmer nicht sehr viel anders aus als vor hundert Jahren - der Lehrer oder die Lehrerin steht vor der Klasse, unterrichtet wird mit Lehrbuch, Tafel und Kreide. Dies ist ein unglaublicher Mangel an Phantasie."