14.02.2011
22:23

Eltern wollen wieder rein in die Kartoffeln

Eine Elterninitiative hat eine Petition gestartet, um in Berlin das neunjährige Gymnasium wieder einzuführen

Die platte Wiedereinführung des G9 ist genauso hirnrissig wie es die des G8 war. Eltern halt. Es geht darum, die A R T des Lernens im Gymi zu verändern, nicht an der Länge herunzupopeln.

Weg mit dem 45-Minuten-Takt, weg von Stopfbuden wie der KKOS, hin zu intelligenten Lernarrangements wie Wochenplan, Freiarbeit, Enrichment, Experimentallaboren und großen Projekten.

Im Gymnasium herrscht bitterste pädagogische Armut, weil die Damen und Herren Studienräte immer noch vom preußischen 5-Prozent-Gymnasium träumen. Dabei sind sie an der 50-Prozent-Hauptschule. Aufwachen!
Ein Jahr mehr oder weniger - whatever!

07.01.2011
09:00

Eltern bereiten Berliner Notenhölle vor

Eltern: Grundschulnoten verstoßen gegen Gleichheitsgrundsatz

Eltern fühlen sich und ihre Lieben ungerecht behandelt. Das wäre keine Nachricht wert. Denn das ist bei überspannt Bürgerlichen täglich zu beobachten, egal, ob sie sich bei Kaisers an der Schlange vordrängeln oder an der Parklücke Stress machen.

Diese neue Berliner Noten-Initiative aber hat es in sich: Wenn Bildungssenator Zöllner den Vorschlag einer gerechten Mutter berücksichtigt, dann ist die Schule in Berlin kaputt!

Man versucht gerade mühsam den Schulen das selbständige Gehen beizubringen. Sie sollen sich selbst Profile geben, um dann gute Schule zu machen. 

Zentrales Notenraster

Wer jedoch ein zentrales Notenraster einrichtet, der schlägt den Schulen und ihren Rektoren mit dem Baseballschläger vor die Knie. Erstens muss man sich dann wieder an zentralistische Vorgaben halten - das wird jede eigene Initiative kaputt machen. Zweitens wird dies auch noch mit dem scharfen Schwert der Note getan. Es ist gerade Ziel des neuen Lernens von den unsäglichen Noten wegzukommen.

Der Strenge-Schule-Faktor, den die Thalia-Schule vorschlägt, ist im übrigen nichts anderes als ein white-middle-class-Bonus. Überall da, wo geordnete Verhältnisse herrschen und streng benotet wird, gibts einen Creditpunkt. Überspitzt gesagt: Schulen in Pankow und Dahlem bekommen einen Bonus für ihre Kinder, Neuköllner, Kreuzberger und Weddinger werden mit einem Handikap versehen. Wieso nicht einfach sagen: In Pankow nur noch Gymnasien - in Kreuzberg nur noch Hilfsschulen?

Warum müssen Eltern Schule kaputt machen - anstatt ihr zu helfen?

Aber, lesen sie das Ansinnen der Eltern selbst:

Dokumentation

Eilig: Noten an Berliner Grundschulen widersprechen dem Gleichheitsgrundsatz – Eltern bereiten Klage vor

Sehr geehrter Herr Dr. Zöllner,  6. Januar 2011

als Gesamtelternvertreterin der Thalia Grundschule in Friedrichshain wende ich mich heute in einer sehr dringenden Angelegenheit Hilfe suchend an Sie:

Im Land Berlin kann jede Grundschule über ihre Fach- und Gesamtkonferenzen die Benotung bei Klassenarbeiten eigenständig festlegen. In Brandenburg zum Beispiel ist die Benotung durch eine Verordnung fest gelegt. Bislang hat das uns Eltern nicht weiter gestört. Jetzt aber, durch das geänderte Schulgesetz, bekommt diese Regelung eine neue Brisanz.

100 von 196 Oberschulen wählen in wenigen Tagen ihre zukünftigen Siebtklässler ausschließlich nach deren Grundschulnoten aus, 14 weitere nach Noten und Tests. Diese Zensuren der Berliner Grundschüler sind aber nicht vergleichbar, da, s.o., völlig unterschiedliche Kriterien gelten.

Nach unseren Recherchen werden zum Beispiel die Schülerinnen und Schüler der Thalia Grundschule im Vergleich zu anderen Kindern unseres Bezirkes extrem streng benotet.

100 %            Note 1
99-90%          Note 2
89-70%          Note 3
69-50%          Note 4
49-30%          Note 5
ab 29%          Note 6

In anderen Grundschulen bekommen Kinder z.B. noch bis 80% eine Zwei, bis 60% eine Drei.

Die Durchschnittsnote der Förderprognose der Thalia-Kinder ist deshalb teilweise um 0,5 Punkte schlechter als die anderer Schüler. Verschärfend kommt hinzu, dass im Sommer ein anderthalbfacher Jahrgang auf die Oberschulen drängt.

Nach Auskunft der umliegenden Einrichtungen in Friedrichshain werden für diese Schülermassen jedoch kaum zusätzliche Klassen eingerichtet. Dadurch sind die Chancen unserer Kinder, einen Platz auf einer begehrten Schule zu bekommen, noch einmal geringer als die anderer SchülerInnen.

In den letzten anderthalb Jahren haben wir Elternvertreter deshalb wiederholt und heftig mit unserem Kollegium in allen Gremien gerungen. Wir wollten das Problem direkt und verbindlich mit den Betroffenen lösen. Leider hatten wir dabei nur mäßigen Erfolg.

Einzelne Eltern bereiten nun eine Klage auf Feststellung der Gleichwertigkeit verschiedener Benotungsmaßstäbe bei Grundschülern vor.

Bevor es so weit kommt, wenden wir uns noch einmal an Sie:

Wie können Sie uns garantieren, dass unsere Kinder beim Zugang zu den Oberschulen gleich behandelt werden wie Kinder aus anderen Berliner Grundschulen mit anderem Benotungsmaßstab?

Wir Elternvertreter könnten uns zum Beispiel vorstellen, dass die Noten der Grundschüler mit einer Gewichtung versehen werden, je nachdem wie streng diese Schulen benoten. So einen Faktor gibt es z.B. bei Abiturnoten aus den verschiedenen Bundesländern, wenn es um die Vergabe von Studienplätzen geht.

Wie Ihre Sprecherin Beate Stoffers gegenüber der Berliner Zeitung bestätigt hat, wird die Sekundarstufe-I-Verordnung in Kürze geändert (Geschwisterkinder sollen nicht mehr zu den Härtefällen zählen). In diesem Zusammenhang wäre doch auch sicherlich eine Änderung in Sachen Durchschnittsnote der Förderprognose möglich.

Über eine baldige Rückantwort würde ich mich sehr freuen. Natürlich stehen wir Elternvertreter auch jederzeit für ein Gespräch zur Verfügung

Mit erwartungsvollen Grüßen

Gesamtelternvertreterin

26.12.2010
14:49

Berliner Schul-Apartheid der Bürger

Selektion unter der Flagge der Hochbegabung

Formell ging es in einem offenen Brief, den dieser Tage ein Mitglied des Berlin-Pankower Bezirkselternausschusses an Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) schrieb, um hochbegabte Kinder. Angeblich bekommen "begabte und hochbegabte Pankower Kinder" nämlich keinen Platz am Gymnasium. Und werden deshalb benachteiligt - eine "tumbe Attacke auf die Besten", schreibt ein Elternvertreter. Er hat dazu ein ca. 20-strofiges Weihnachtsgedicht verfasst, das so beginnt:

"Im ganzen unserm Lande kennt
man die, die man schlicht Genius nennt.
Neunhundert stellen jedes Jahr
die künftgen Wissenschaftler dar.
und bangen hin zur fünften Klasse,
daß man sie ans Gymnasium lasse."

Diese scheinbar naiv vorgetragene Bitte nach Förderung für besonders Begabte hätte natürlich, würde sie der Senator berücksichtigen, eine ganze andere Folge: Eine weitere Fragmentierung des Berliner Schulwesens - denn angeblich hochbegabte Kinder gibt es im Prenzlauer Berg/Pankow neuerdings zuhauf. Agressiv verlangt eine spezielle Schicht immer mehr und immer absonderlichere Gymnasialplätze. Wer keine Lust auf sechs Jahre Grundschule hat, nennt sein Kind neuerdings hochbegabt. Das kommt heraus, wenn Schulgesetze nicht allgemein gelten, sondern bestimmte Klientele bedienen sollen. 

Pädagogische Selektierer

Klar muss man langsamere wie schnellere Schüler so individuell fördern, wie es nur geht. Die Mitte übrigens genauso. Dafür gibt es auch eine intensive pädagogische Debatte und eine besser werdende Praxis. Aber was einige Selektier-Sektierer letztlich erreichen wollen, ist keine pädagogische Förderung, sondern eine institutionelle Absonderung. Sie wollen eigene Schule für IHRE Kinder - ohne den doofen Rest.

Die angeblich besseren, die besten und die hochbegabten Schüler - jeder kriegt seine eigene Schuhschachtel namens Gymnasium, Sport-Gymnasium, Musik-Gymnasium, Elite-Gymnasium etc. Wenn man aber die vermeintlich Guten und  Besseren alle herausliest, dann bleiben trotzdem immer ein paar übrig. Wo kommen die hin? Genau, die werden herausselektiert in die Schlechtenschulen, da werden sie konzentriert und gesammelt - und einer sedierenden Pädagogik unterworfen.

Selektieren als deutsche Spezialität

Man kann es Hartz IV-Pädagogik nennen oder pädagogische Friedhofsruhe (wie es Hans Wocken tut). Kurz gesagt, ist es nichts weiter als ein pädagogisches Verbrechen, Kinder in Förderschulen zu stecken, weil man diesen Kindern in den Sonderschulen in Wahrheit praktisch das intellektuelle Lichtlein auspustet. Es gibt es eine Vielzahl von Studien, die das belegen, z.B. Lisa Pfahl im WZB-Brief.

Dies ist kein Zufall und nicht Gottes Werk - es hängt unmittelbar damit zusammen, dass bestimmte Leute denken, ihre Kinder hätten ein staatlich verbrieftes Recht auf Förderung OHNE DIE ANWESENHEIT ANGEBLICH DÜMMERER KINDER. 

Das Selektieren ist eine deutsche Superspezialität, wie wir seit 1933ff wissen. Politisch und bevölkerungstechnisch geht das selbstverständlich nicht mehr so einfach wie damals. Aber, Hand aufs Herz, ist der neue Auslesewahn nicht der kleine Bruder von anderen, ebenfalls biologisch begründeten Selektionen? Und exekutiert ihn nicht erneut eine von keinerlei demokratischen Skrupeln angekränkelte Bürgerschicht, die ihren Nachwuchs vom Pöbel absondern will?

Nicht von Dummkinderchen bremsen lassen

Die Begründungen aus dem Offenen Brief an Zöllner sind genau so biologistisch - und erheben ultimativ Anspruch auf politische Folgen: Es gibt superschlaue Kinder, die sind eben klüger, die dürfen nicht durch irgendwelche Dummkinderchen gebremst werden. Also brauchen sie eine eigene Schule!

Pisaversteher meint: Sorry, aber der Staat als der wichtigste Betreiber von Schulen muss nicht Sonderinteressen bestimmter Leute bedienen. Ja, er muss alle Kinder fördern und auch die schnelleren ganz besonders. Aber er hat zuvörderst eine Verfassung umzusetzen, in der es gleiche Rechte und beste Entwicklungschancen für alle Kinder zu geben hat. Punkt.

Hochbegabte in der Sonderschule vergessen

Die Förderung Hochbegabter klappt, wie wir wissen, viel besser in heterogenen Gruppen mit weiten Freiräumen. Allein schon deswegen, weil man dann nicht plötzlich mal einen Hochbegabten in der Sonderschule vergisst - was bislang ziemlich häufig vorkommt.

Vor Hochbegabung hilft ein Blick ins Grundgesetz. Man muss auch nur die ersten drei Artikel lesen, dann weiss man, was geht - und was nicht. It's the democracy, gifted!

Bildungsbürger erhöhen Auslesedruck

Was lernen wir? Das Bürgertum zieht seine Konsequenzen, wenn der Staat mehr Integration einführen will, wie in Hamburg und Berlin praktische Schulpolitik. Wird die Auslese unter vom Staat abgebaut, dann volksbegehrt das Bürgertum dagegen. Oder erhöht den Auslesedruck oben - durch die Forderung nach Spezialschulen für "Hochbegabte".

P.S. Richtig interessant wird es erst, wenn alle verstanden haben, dass das Kellergewölbe des deutschen Schulwesens, die unzähligen verschiedenen Sonderschulen aufgelöst werden müssen. Niemand anderes als die Vereinten Nationen fordern das von Deutschland. Das Zauberwort heißt Inklusion, und es hat zur Folge, dass über 400.000 Kinder, die bislang in Sonderschulen verwahrt werden, ins allgemeine Schulsystem wechseln dürfen. Mal sehen, was das Bildungs-Bürgertum dann macht - denn auch Porschefahrer bekommen ja bisweilen ein Kind, was. z.B. Trisomie 21 hat. In normalen Schulen ist der Erfolg von Down-Kindern unglaublich viel größer, wenn Inklusion pädagogisch gut gemacht wird. 

22.12.2010
13:45

Kreative Themenverwaltung in Bad Boll

Thema Missbrauch war vom BMBF bestellt - wurde aber nicht geliefert (und sollte sogar verhindert werden) 

Es wird immer interessanter, wie die Reformpädagogen im Bad Boll das Thema sexueller Missbrauch "verwaltet" haben. Ulrich Herrmann und inzwischen auch die Leitung des reformpädagogischen Netzwerks "Blick über den Zaun" (BÜZ) behaupten, es sei vereinbart gewesen, NICHT ÜBER SEXUELLEN MISSBRAUCH ZU SPRECHEN. Deswegen weigerte sich Herrmann auch, dieses Thema zu behandeln. Im neuesten Newsletter des BÜZ heißt es dazu,

"die Tagung (war) begründet anders konzipiert und eine Tagung 'Reformpädagogik und sexuelle Gewalt' nach Abschluss des Runden Tischs „Sexueller Kindesmissbrauch (http://www.bmbf.de/press/3005.php) bereits angekündigt." 

Diese Behauptung ist falsch.

Das Bundesbildungsministerium hatte die Boller Tagung gefördert - und zwar explizit mit dem Ansinnen, selbstverständlich auch über sexuellen Missbrauch zu sprechen. Das äußerte die Vertreterin des BMBF direkt vor Ort.

Die große Frage lautet: Wer wollte eigentlich das auf der Hand liegende Thema sexueller Missbrauch verhindern? Und zu welchem Zweck? Und das im Jahr des Missbrauchs 2010?

Die These des BÜZ ist vollkommen abwegig. Nach Informationen von pisaversteher wird gerade erst über eine Tagung "Reformpädagogik und sexueller Missbrauch" gesprochen.

pisaversteher bleibt dran. Weitere Dokumente könnten folgen.

15.12.2010
01:16

Reformpädagogik ohne Vertrauen und ohne Demokratie

"Die Betroffenen anerkennen"

Vorbemerkung: Das Folgende war der Beitrag von pisaversteher auf dem reformpädagogischen Kongress in Bad Boll. Es war ein Podium zusammen mit Ulrich Herrmann. Der Professor war nach mir mit einem kurzen Statement dran. Er sagte als erstes: "Normalerweise würde ich jetzt aufstehen und gehen, weil sich Herr Füller nicht an eine Verabredung gehalten hat. Es war abgemacht, dass hier NICHT ÜBER SEXUELLEN MISSBRAUCH gesprochen wird." Ulrich Herrman ist der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats der Odenwaldschule, der die pädagogische Neuausrichtung der Schule begleitet. 

In der Tat hatte pisaversteher vorab ein mail bekommen, in dem es hieß:

"Einig sind wir uns sicher, dass es im Sinne des Gesamtthemas nicht um Missbrauch gehen kann." 

 

Text:

Der Titel der Veranstaltung hier in Bad Boll heißt ulkigerweise "Bewegendes in Bewegung". Üblicherweise spreche ich nicht auf Sportveranstaltungen.

Aber ich will Ihnen gerne erzählen, was mich heute bewegt.

Ich hatte gestern abend etwas überraschend ein Gespräch mit einem Betroffenen von sexuellem Missbrauch, der mir folgendes erzählte.  Es trafen sich Vorstände von Trägerverein, Altschülern und dem neuen Verein an der Odenwaldschule namens „Glasbrechen“ (Dort sind betroffene und nicht betroffene Altschüler Mitglied; auch die ersten Lehrer werden aufgenommen.)

Die Sitzung dauerte bis morgens um 3, um 6 erwachte einer der Menschen dort mit Unwohlsein und schlechten Fantasien. Er versuchte wieder einzuschlafen, aber es gelang ihm nicht: Er hatte vor etwas Angst in dem Zimmer, das zufällig den Zimmern an der Odenwaldschule ähnelte, in denen er sich viele Jahre aufgehalten hatte.

Der Mann hat plötzlich wieder Angst davor, dass jetzt gleich der Herr Direktor hereinkommt und etwas von ihm will - etwas, das er aber definitiv nicht will.

Der Mann verließ also um halb sieben in der früh sein Zimmer und ging hinaus in die Kälte. Er floh vor dem Herrn Direktor, der ihn vor 30 Jahren missbraucht hat.

Ich glaube, viel mehr muss man nicht sagen zu den lang anhaltenden Wirkungen von Missbrauch.

Keine Sorge, ich halte mich an das Konferenzthema, ich wende den Blick nicht zurück, ich befinde mich in der Gegenwart. Das ganze geschah vor drei Tagen. 

Die Ängste dieses Mannes zu bearbeiten, kann kein Thema der Reformpädagogik sein. Das müssen Therapeuten machen.

Aber die Reformpädagogen könnten diese Ängte mal ernst nehmen, sie sollten sie zur Kenntnis nehmen:

Da steht jemand Ängste aus – OBWOHL ER AN EINER REFORMPÄDAGOGISCHEN VORZEIGESCHULE WAR.
„Und er ist leider nicht der einzige“.

Es gibt – wie wir am Freitag sehen werden, wenn die Odenwaldschule die neuesten Opferzahlen vorlegen wird – über 100 davon. Es ist damit zu rechnen, dass es Hunderte werden, die irgendwann ihr Schweigen brechen werden.

Meine These heißt: Sich mit der Zukunft der Reformpädagogik auseinanderzusetzen heißt zunächst, sich den konkreten Situationen des Missbrauchs zuzuwenden und zu betrachten: Wie konnte das geschehen?

Es heißt, die Opferperspektive einzunehmen und zwar radikal. Das Leiden anerkennen, Zuhören.

Einer der Beroffenen aus dem Odenwald hat mal etwas sehr kluges gesagt: „Hört auf verstehen zu wollen, hört endlich zu.“

Woher habe ich das gelernt? >>> Von den Betroffenen.

Und woher noch? >>> Von Ellen Key. Bei allen Unterschieden, die die reformpädagogischen Autoren in ihren Instrumenten und pädagogischen Arrangements aufweisen, haben sie doch eines gemeinsam: sie wollen eine Pädagogik vom Kinde aus, sie stellen das Kind in den Mittelpunkt.

Ich frage mich: Warum gibt es hier keine Veranstaltung zu den Ängsten des Kindes, das nachts von einem sehr prominenten Reformpädagogen im Schlaf überfallen wird, um sich an ihm zu befriedigen? Warum haben seit dem 6. März 2010 so wenig Reformpädagogen die Opferperspektive eingenommen?

Und warum fragt keiner von den versammelten Reformpädagogen nach den Gefühlen eines betroffenen Schülers, wenn er solchen Menschen wieder im Unterricht begegnet?

Ich will das an zwei Beispielen illustrieren:

1) Tagungsthema: Reformpädagogik und Demokratie

Wir haben uns hier gestern einen Vortrag von Ulrich Herrmann angehört, der sich zu weiten Teilen auf einen gewissen Gustav Wyneken bezieht. Herrrman lobte ihn einen vorbildlichen und visionären Demokraten, der nicht nur in der Lage gewesen wäre, das abscheuliche preußische Schulwesen zu reformieren – wenn nur der preußische Minister Haenisch nicht so ein kleinkarierter Zahnarzt gewesen wäre und dem Entwurf einer "gut Wyneken´schen" Schulgemeinde die Zähne gezogen hätte. 

Wieso kamen in dem Vortrag eigentlich keine konkreten Schüler vor? Schüler, die Wyneken in der superdemokratischen Schulgemeinde missbraucht hat?

Wyneken war nämlich weder aus der Nähe noch aus der Ferne betrachtet ein Demokrat. Er war ein überzeugter, um nicht zusagen fanatischer Pädophiler; einer, der Schüler mehrfach in ausweglose Zwangslagen gebracht hat.

Wie kann ein gerichtlich verurteilter Päderast hier als demokratischer Musterpädagoge gefeiert werden? Weil man nicht AUCH die Perspektive der Opfer einnimmt und sich fragt: Wie stand es eigentlich um die soziale Wirklichkeit der gelebten Demokratie in der „Ordensburg“ Wickersdorf? Kann man allen Ernstes einen Mann als Zeugen für eine vorbildliche innere Schuldemokratie im Jahr 2010 herbeizitieren, der diese Demokratie mehr als einmal benutzt hat, um Schülern eine schwülstige Gleichheit für einen sehr speziellen Zweck vorzugaukeln: damit er sie leichter in sein Bett bekommt.

[Wenn sie Details wissen wollen – fragen sie Ulrich Herrmann, der kennt in Wickersdorf die Farbe der Unterhosen jedes Schülers. Und fragen sie ihn kritisch, denn er ist berufen, die Odenwaldschule pädagogisch zu reformieren.]

Warum ist das wichtig: Die Odenwaldschule war DIE demokratische Musteranstalt. Und trotzdem haben dort die Familienoberhäupter in ihrer Konferenz die beiden Briefe der betroffenen Schüler im Jahr 1998 nicht ernst genommen; und trotzdem haben sich die selbstbewussten, kritischen Schüler nicht den Mut aufgebracht ihren Mitschülern zu helfen. 

Die These kann also angesichts des Missbrauchs der Demokratie an der Odenwaldschule zunächst nicht heißen, „mehr Demokratie wagen!“, sondern: Wieso hat sie nicht funktioniert, die Demokratie, auf dem Flaggschiff der Landerziehungsheime?

2) Beispiel: Vertrauen!

Wenn Sie sich die Berichte der Betroffenen genauer anschauen, so erzählen sie, wie sie als Kinder verzweifelt versucht haben, sich gegen den Missbrauch zu wehren. Sie entwicklen, wie mir jemand sagte, Strategien zum Schutz des eigenen Seins. Diesen einsamen Gedanken, auf welche Art man dem Schrecken zukünftig begegnen werde, wie eine Gegenwehr aussehen könne, diese einsamen Gedanken hätten sie als Kind wieder etwas aufrechter gehen lassen.

Aber es sei dann erneut zu Übergriffen gekommen. Das Kind werde dabei erneut entwürdigt. Es könne sich selbst nicht mehr trauen. "Nicht mehr trauen den eigenen Gedanken, die ihm doch glaubhaft gemacht hatten, wie man das nächste Mal diesem Geschehen entgehen könnte. Es entsteht ein 'Sich selbst nicht trauen können'". Und später als Erwachsener rede man sich dann ein: "Selbst schuld wenn du so empfindlich bist", das heißt: "Selbst schuld!!"

Diese Stellen zeigen m.E. dreierlei:

  • Wie grauenhaft die Verwüstungen sind, die der Missbrauch im Kind auslöst.
  • Wie fein und klug die Selbstanalyse des Kindes ist, jenseits von aller Pornografie, die stets bei „Fällen“ befürchtet wird. Diese psychologisch und pädagogisch bedeutsamen Miniaturen gibt es eben nur, wenn man sich die ganze Geschichte eines Betroffenen auch anhört.
  • Drittens, und das ist sehr bedeutsam: Es macht einen Unterschied, ob ein stinknormaler Pädagoge oder ein Reformpädagoge übergriffig wird. Und zwar für beide, für das Kind wie für die Reformpädagogik:

Für das Kind, weil es nicht stets überfallen wird, sondern weil es freundlich hineingelockt wird in die Vertrauensfalle. Was da geschieht ist pädagogischer Hochverrat. Solche Leute darf man nicht mehr als Pädagogen hochleben lassen.

Und für die Reformpädagogik: Warum denkt niemand darüber nach, wie alle Verheißungen dieser Pädagogik vom Kinde aus in einen großen Zynismus münden, wenn es doch gar nicht bereit ist, das Kind wirklich zu sehen?

Was bedeutet das? Was mich hier als Vortragenden bewegt, ist nicht die Frage.

Es geht darum: Was bewegt die Betroffenen eigentlich? Das muss uns wichtig sein. 

 
pisaversteher.de