Warum lisarosa nicht Diane Ravitch spielen sollte
Oder: Was tun mit Herrn Frust, Frau Baldpension und Kollege Ohnemich
Der Blog-Text hat heftige Reaktionen ausgelöst, siehe Kommentare unten und die Tweets von @cervus@lisarosa etc oder jetzt auch den nachdenklichen Blog-Post von Felix Schaumburg @schb. pisaversteher wird hier eine Doku der tweets anlegen, damit klar wird, was er mit der Wagenburg um die rest-in-peace-Lehrer meint. Einstweilen dazu noch ein altes Stück über Lehrer: "Sind sie faule Säcke oder arme Schweine?" (Siehe unten) - und ihre enorme Bedeutung für Schulreform. Viel Spaß!
@sebaso @cervus die frage ist: schmeisst du doofe lehrer sofort raus? was bewirkt das in der schule? #faulesaecke #schulreform
Mein Tweet zur überbordenden us-amerikanischen Debatte über Obamas Bildungsprogramm „Race to the top“ hat sogar in Hamburg und im tiefen Bayern die Nerven blank gelegt: Mit einem Tweetgewitter reagiert @lisarosa, auch @vilsrip bekommt einen puteroten Kopf wegen des bösen Lehrerbashings.
Mitverantwortung für tote Schulen
Lisarosa spricht ausgerechnet die wichtigste Gruppe von jeder Mitverantwortung an toten Schulen frei: die Lehrer – und fordert differenziert hinzuschauen. Sie aber verleiht pauschal allen Lehrern den Persilschein, mit dem Niedergang der Schulkulturen nicht zu tun zu haben. Das ist in dieser Undifferenziertheit nicht hinnehmbar.
RT @lisarosa: @ciffi Lehrerbashing führt bei mir zu extremem Widerstand // Dito.
Wie jeder weiß, der hin und wieder mit offenen Sinnen eine Schule betritt, und wie übrigens kilimandscharohohe Berge von Studien zeigen: Lehrer zählen, positiv. Aber: schlechte Lehrer zählen viel mehr. Sie lähmen tausende deutscher Schulen, weil sie in der inneren Emigration oder Frustration sind; sie blockieren beinahe jedes Reförmchen, das es tatsächlich bis zu ihnen schafft. Sie ziehen Kollegen runter. Und sie verfahren nach dem Motto:
Wir machen alles mit – sobald ihr Tausende Lehrer zusätzlich einstellt. Vorher geschieht gar nichts. Siehe z.B. den Leserbrief von Wulff zum taz-Interview mit Roland Seidl über das Übel Gleichschritt.
Das ist nichts anderes als Erpressung. Lehrer, genauer eine bestimmte Spezies unter ihnen, nimmt Schulen und Kinder als Geisel für die eigene Indolenz. Das sage übrigens nicht ich, das sagen die Lehrer selbst, und zwar die guten über ihren scheintoten Kollegen.
Krokodilsprinzip: Alle still liegen bleiben, dann gibts Geld
Wenn ich mal einen kursorischen Blick über ein mir ganz gut bekanntes Kollegium schweifen lasse, dann befinden sich dort eine Handvoll echter aktiver Leistungsträger, die sofort besser Schule machen wollen.
Sie werden am stärksten geblockt von: Einer immobilen Gruppe von Lehrern, die nach dem Krokodilsprinzip verfährt. Möglichst still liegenbleiben - dann regnet es Geld.
Was mich schwer wundert, ist dass die hiesige Lernenzwonull-Blogosphäre völlig ausblendet, welche Prinzipien sie vertritt – und für welche die Ruhet-in-Frieden-Fraktion im Lehrerzimmer steht. Die einen wollen aus starren Zeitfenstern und Lernformen raus, sie gieren nach individuellen Lernmethoden, partizipativen Projekten und kollaborativen Formaten. Daneben steht eine Pauker-Gruppe, welche die Arme fest verschränkt und all dies für unmöglich hält oder als sinnlosen Blödsinn empfindet. Und ausgerechnet die Web2.0.-Community baut nun einen Schutzwall gegen pauschales Lehrerbashing auf. Tztztz.
Was tun mit failing teachers?
Ich empfehle, sich die einzelnen Elemente des race-to-the-top #rttt mal näher anzusehen (außer dem bekloppten Titel). Dann wird man feststellen, dass es sehr interessante Punkte darin gibt – wie die Überlistung der faulen Bundeststaaten (-länder) durch einen Wettbewerb; die Ausrichtung an Bildungsarmut und failing schools etc. Es gibt ein Bündel hochspannender Fragen zu diskutieren. Dass man aber um eine Antwort auf die Frage: „Was tun mit failing teachers?“ nicht herumkommt, ist unbestritte
Race to the Top – from the bottom
In Deutschland ist die flächendeckende Schulreform von oben gescheitert. Aber unten geht es munter vorwärts
Mir sind die Rückblicke auf den Hamburger Volksentscheid zu selbstgewiß und zu hämisch. Die Schulreformer beziehen im nachinein zu viel Prügel. Immer wieder hört man, die Senatorin Goetsch habe zu viel gewollt und zu wenig erklärt. Sei ja logo, dass das schief gegangen sei.
Das kann so sein, aber ich biete eine andere These: Den Scheuerls und den Guccis hätte man erklären können, so viel man will – die hätten da nie mitgemacht. Nein, der niedergeschmetterte Teil der Schulreform verweist auf die komplizierte Frage: Wie kriege ich eine Reform von Schule und Lernen Richtung 21. Jahrhundert hin – von oben oder von unten?
Da steht ein ODER. Natürlich müsste man das irgendwie von unten UND von oben machen. @lisarosa schreibt ganz lässig, gerade so als wäre es eine Selbstverständlichkeit:
„nicht entweder /oder sondern vor ort + von oben + rechtzeitiger partizipation von unten = finnische strategie. auch bei uns richtig.“
Ja, die Theorie ist schön, so schön – aber sie klappt halt nicht. Denkt irgendjemand, wenn man wir-wollen-für-uns-lernen und Dr. Spitzfindig Scheuerl früher hätte partizipieren lassen, dass sie bzw. er für die sechsjährige Primarstufe zu gewinnen gewesen wäre? Was für eine Naivität! Scheuerl war ganz früh einbezogen – und hat deswegen die große Windmaschine anstellen können. Er hat Partizipation par excellence betrieben – gegen die Reform.
Schulreform von oben versagt seit 200 Jahren
Nein, die Schulreform von oben versagt – wenn man so will – seit 200 Jahren. Von olle Humboldt 1809 beginnend versuchen die Deutschen ihr zutiefst undemokratisches Schulwesen zu öffnen, zu entprivilegieren, teils mit fremder starker Hilfe wie etwa US-Oberbefehlshaber Lucius D. Clay. Allein, es klappt nicht. Verschärft hat sich das in den letzten 10 Jahren. Nach dem Pisaschock hätte es nur eine korrekte Antwort geben können: Demokratie und Effizienz jetzt sofort! Aber die kam nicht.
Unterschichtsfabriken vs. 21st Century Schools
Erst haben die Kultusminister das jahrelang abgelehnt und nun halt das Hamburgische Volk. Und, bitte, Vorsicht. Auch die relativ weit reichenden Reformpläne Bremens und Berlins sollte man nicht vorschnell als Beleg für gelungene Umstellungen von Frontbeladung, Auslese und Unterschichtsfabriken auf individuelles Lernen, Fördern und 21st Century Schools zitieren. Erstens sind beides Stadtstaaten, zweitens ist die Reform dort noch ganz am Anfang. Kritische Wiedervorlage nicht ausgeschlossen.
Was ist die Alternative? Die Schulreform von unten. Sie ist keine faule Ausrede und keine Flucht vor den Hamburger Porsche-Fahrern. Die Schulreform von unten läuft die ganze Zeit schon, und sie ist, mit Verlaub, ein Riesenerfolg. Die in den letzten 15, 20 Jahren entstandenen neuen Schulen wie die Kleine Kielstraße in Dortmund, die Münsteraner Wartburgschule, die Max-Brauer in Hamburg und die Jenaplan in Jena, die Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim oder die Exoten wie die Templiner Waldhofschule oder die Klinikschule Hindelang, diese Schulen sind Superschulen, echte Leuchttürme, die sich vor Besuchern kaum retten können.
Die besten Schulen der Welt: durch Schulreform von unten
Und zurecht. Was es dort an Lern- und Lehrkultur des 21. Jahrhunderts zu bestaunen gibt, ist einzigartig. Es kann sich überall sehen lassen. Diese Schulen gehören zu den besten der Welt. Sie haben nur einen Fehler: Es gibt sie immer nur als Unikat, sie sind wahnsinnig individuell – auch wenn sie sich in der Methode, im Arrangement und in der Philosophie sehr ähnlich sind: no child left behind! Alle Schüler, die sie haben, sind die richtigen, sie gehören dazu!
Das aber ist die Crux – und der groteske Vorwurf, den man an diese Schulen richtet: Ihr seid so wenig! Und: Können das denn wirklich alle? Auch die Stinoschule um die Ecke?
Ja und Nein. Ja, das könnten alle können. Aber nicht auf Befehl von oben und nicht als Klonarmee, die wie bei Star Wars aus der Fließbandretorte marschiert, um das Universum des Lernens zu erobern.
Kein Masterplan
Deswegen hat @lisarosa recht, dass man das von unten UND von oben machen muss, Schulen verändern. Aber sie hat nicht recht, wenn sie so tut, als gäbe es dafür eine Blaupause, ein Klonrezept oder einen Masterplan.
„sowas ist normales gutes Change Management und das haben die Finnen angewendet“, schrieb auch @tliebscher selbstverliebt. Und genau das – ist es eben nicht.
Das change management, das Goetsch und Bürgermeister Beust in Hamburg anzuwenden hatten, war nämlich nicht normal, sondern superkomplex. Sie mussten eine Schulreform von oben UND eine unten organisieren.
Schau mer mal, wies geht?
Das brachte sehr diffizile, ja widersprüchliche Anforderungen mit sich: Unten werben, Schulen und Lehrer mitnehmen – das hat weitgehend geklappt. Oben Mehrheiten organisieren und durchsetzen, auch hart die flächendeckende Variante der sechsjährigen Primarstufe propagieren – damit nicht der absurde, zerstörerische Berliner Flickenteppich entsteht. Das hat auch deswegen nicht geklappt, weil man oben, sprich in der PR-süchtigen Öffentlichkeit härter, alerter und fertiger argumentieren musste als man es in Wahrheit unten wusste. Und - darauf weist Wolfgang Edelstein zurecht hin - weil man jene, deren Kinder von der Reform besonders profitieren sollten - die wenig Bildungsorientierten -, eben ganz anders ansprechen muss. Man stößt hier, das ist eine Lehre aus der schrecklichen Wahlbeteiligung unter Hatz-IV-Empfängern, an die Grenzen der Demokratie.
Manch ein Schulreformer unten fragte sich zwischendurch – zurecht!, - woher die Goetsch denn ganz genau wissen konnte, wie es geht. Nur weil die Max-Brauer-Schule es schon zweimal geschafft hat, sich neu zu erfinden? Und war nicht genau diese Brauerschule plötzlich gegen die Reform? Aber Goetsch musste ja alles wissen, jedenfalls so tun. Man kann nicht eine Schulreform mit dem Beckenbauer-Argument „Schau mer mal“ im Parlament verkünden. Man kann aber auch nicht zugleich unten sagen, „ich weiss schon, wie das alles geht!" – zu Leuten, die es nur selber wissen und machen können.
Ich glaube, niemand hat sich mehr innerlich gewunden als Christa Goetsch, dass es eben keine positive Reformkultur gab und sie deswegen an der einen oder anderen Stelle mehr behaupten musste, als sie wirklich wusste.
Kulturrevolution des Lernens: Das Gymnasium nicht mehr NUR für euch
Das ist die Widersprüchlichkeit: Die Schulreform unten muss eine Kulturrevolution des Lernens entfachen – und dabei nett sein und funktionierende Einheiten schaffen. Die Schulreform von oben muss bürgerliche Gewissheiten aus zwei Jahrhunderten zerstören. Sie muss das Versprechen brechen, das der spätabsolutistische Staat seinen Bürgern gab, auf dass sie keine Revolution machen: Das Gymnasium ist für Euch Schöne und Reiche – und zwar nur für Euch!
Das geht nicht so einfach zusammen, wie sich mancher bloggende Schlauberger denkt.
P.S. Man muss nur in die USA schauen, wie dort Schulreform durchgepeitscht wird, um zu verstehen, wie scharf die Widersprüche sein können. Im „Race to the Top“ verspricht Obama Milliarden für jene Bundesstaaten, die ihre Schulen von Unterschichtsfabriken in funktionierende Lernorte des 21. Jahrhunderts verwandeln wollen. Er gibt ihnen die Freiheit, dafür halbe Belegschaften auszutauschen. Teilweise muss die Hälfte der Lehrer aus failing schools gehen – und es kommen scharenweise neue Lehrer und andere Organisationen, die versuchen, aus dem Stand eine neue Schulkultur zu entwickeln.
Charter Schools als Reformmotoren
Hilfe für die Hoffnungslosen
Hier gehen hoffnungslose Generationen in die Schule«, sagt Angelika Klein-Beber. »Viele Kinder verlassen die Schule ohne Abschluss.«
[Auszug aus: "Ausweg Privatschulen? Was sie können, woran sie scheitern" Hamburg 2010]
Klein-Beber ist Anwältin und Gründerin einer privaten evangelischen Schul-Initiative, die in Berlin-Kreuzberg den schulpolitischen Stillstand beenden will. Beber hat keine Lust, darauf zu warten, bis sich das staatliche Schulsystem verbessert – sie will das Thema selbst in die Hand nehmen. Gemeinsam mit anderen hat sie die Initiative ergriffen, um eine evangelische Schule in Kreuzberg zu gründen.
Skeptisch gegen Privatschulen
Dem Begriff Privatschule steht Klein-Beber skeptisch gegenüber: »Wir sind keine private Schule, sondern ein freier Träger«, betont sie. Die Gebühren der Schule wären maßvoll. Maximal 150 Euro monatlich, das sei nicht vergleichbar mit dem fünfstelligen Schulgeld, das man für englische Privatschulen jährlich aufbringen müsse. Und natürlich stünde ihre Schule für Muslime offen, genau wie etwa in der evangelischen Schule des Nachbarbezirks, wo etwa ein Drittel der Schüler muslimischen Glaubens seien.
Der Bezirk sagt Njet
Egal aber wie visionär oder professionell die Ideen der Schulgründer sein mögen. In das Gebäude der staatlichen Rosegger-Schule dürfen sie nicht hinein – weil Kreuzbergs Lokalparlament Angst hat, eine Privatschule könne den umliegenden Schulen Konkurrenz machen. Sie haben beschlossen, staatliche Schulgebäude grundsätzlich nicht an Privatschulen zu vergebeb. Damit ist Klein-Beber die x-te Initiative, die in Kreuzberg Schule verbessern will, aber daran gehindert wird. Der schulpolitische Sprecher der SPD sagt zur Begründung, eine private Schule könnte die umliegenden staatlichen Schulen »kannibalisieren«.
Schluss mit der Blockade
Vielleicht ist es Zeit, in Kreuzberg aus dem wechselseitig blockierten Entweder-staatliche-Schule-oder-private-Schule zu entkommen. Durch ein sowohl als auch. Sowohl staatliche Schule als auch private Schule. Also zum Beispiel eine kommunale Schule nach dem Jenaer Modell oder eine Charter School nach dem Vorbild Geoffrey Canadas in New York-Harlem. Dann müssten die Kreuzberger die Verantwortung nicht mehr auf den Berliner Schulsenator schieben. Sondern sie hätten selbst die Kompetenz, eine gute Schule anzuschieben. Angelika Klein-Beber müsste sich bei sich selbst nicht mehr dafür entschuldigen, dass sie eine Privatschule gründen will. Dann könnte man endlich ein gutes frei-öffentliches Schulmodell in Kreuzberg testen. Und Vorbild werden für die vielen Regionen, die eine eigene Regional- oder Charter School entwickeln wollen.
Schulreform von unten - oder gar nicht
Kommentar im Deutschlandfunk 24. Juli
Hamburg hat schulpolitische Geschichte geschrieben. Mitte Juli lehnten es 276.304 Bürgerinnen und Bürger in der Hansestadt ab, die Grundschule um zwei Jahre zu verlängern und pädagogisch aufzuwerten.
Es lässt sich trefflich darüber lamentieren, ob das Volk falsch oder parteilich oder irgendwie ungerecht abgestimmt habe. Oder ob es überhaupt DAS Volk war, wenn vor allem die reichen und gebildeten Hamburger Stadtteile die schwarz-grüne Schulreform ablehnten.
Fakt ist: Eine deutliche Mehrheit lehnte die sechsjährige Primarschule per Plebiszit ab. Das bedeutet: Der Slogan "länger gemeinsam lernen" ist verbrannt.
Kein Schulreformer in der Republik sollte so dumm sein, die Formel einfach weiter zu verwenden - etwa mit dem arroganten Hinweis, die Hamburger Schnöseleltern hätten halt nicht verstanden, was auf dem Spiel steht.
Dennoch ist die schulpolitische Lage seit Sonntagabend 22 Uhr, als der 56-Prozentsieg der Initiative "Wir wollen lernen" amtlich bestätigt wurde, nicht leichter geworden. Ja, das Volk hat Nein zu einer Demokratisierung der Grundschule gesagt. Ja, es stimmt aber auch, dass es eben kein ideologisches Konstrukt war, was der Erste Hamburger Bürgermeister Ole von Beust und seine eifrige Schulsenatorin auf den Weg bringen wollten. Sondern dass es dafür handfeste empirische Gründe gab: Fast in keiner deutschen Stadt sind die Schulen so schlecht wie in Hamburg etwa die Hauptschulen. Acht von zehn Schülern dort können kaum lesen. Man nennt diese Gebilde in Forscherkreisen nicht umsonst Schulen der Hoffnungslosigkeit oder gern auch Unterschichtsfabriken.
prepare to prison
Wie bitte soll die erste und am meisten globalisierte Stadt Deutschlands, die Hafenstadt Hamburg, Wohlstand und Bürgerrechte sichern, wenn 25 bis 30 Prozent ihrer Jugendlichen weder berufs- noch lesefähig sind? Und in Essen, Dortmund, Frankfurt, in Berlin und Bremen sowieso, aber auch in Stuttgart und München ist es doch nicht anders: An der Isar nennt man Hauptschulen in bestimmten Stadtbezirken mittlerweile "prepare to prison" - denn sie haben ja objektiv die soziale Zusammensetzung von Justizvollzuganstalten.
Die Kürze der hiesigen Grundschule steht damit in ziemlich engem Zusammenhang. Man muss da gar keine Pisastudien lesen, wo klar bewiesen wird, dass die Auslese zum Gymnasium nicht nach Leistung, sondern nach sozialer Herkunft erfolgt. Man muss nur Unterschichtseltern fragen, wie chancenlos ihre Kinder nach vier Jahren sind. Oder gern auch Mittelschichtsfamilien, wie sehr ihnen der enorme Druck auf die Nerven geht, der heute bereits auf Drittklässler ausgeübt wird. Die Flucht aus dem staatlichen Schulsystem ist vor allem in der Grundschule ein nicht zu leugnender Fakt.
Grausame Zwickmühle
Hamburgs Eltern und Volksbegehrer haben die Republik also in eine grausame Zwickmühle manövriert.
Auf der einen Seite werden bereits die Messer gewetzt, um Volksentscheide im Saarland und Nordrhein-Westfalen vorzubereiten. Motto: Finger weg von den Schulen! Im Saarland soll es bald eine fünfjährige Grundschule geben; in NRW sind ein Drittel neuer Gemeinschaftsschulen geplant, die ihre Schüler bis zur sechsten Klassen gemeinsam unterrichten dürfen.
Auf der anderen Seite greifen die Demografie und die Wirtschaft das bestehende Schulsystem viel schärfer an als linke Schulreformer: In den großen Bundesländern, den Big Five, wo 75 Prozent der deutschen Schüler zur Schule gehen, steht ein beispielloses Schulsterben bevor.
Hunderte, ja Tausende Hauptschulen werden in Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen eingehen - wegen Schülermangels.
Gleichzeitig ruft die Industrie immer lauter nach immer radikaleren Reformen: Von der Einschulung mit vier Jahren bis hin zur Verschmelzung von Haupt- und Realschulen ist da alles im Programm, was man sich denken kann.
Mega-Unternehmen Schule vor dem Kollaps
Was also tun? Schulfrieden gewähren - und alle Verbesserungen einstellen? Oder ein, wie nicht wenige fordern, ein bundeseinheitliches Schulsystem schaffen? Beide Forderungen sind nachvollziehbar -- und doch Kokolores. Fast 400.000 Lehrer gehen bald in den Ruhestand. Wer glaubt, er könne die Hälfte des Mega-Unternehmens "Deutsche Schule" veränderungslos ins 21. Jahrhundert führen, der ist genauso realitätsblind wie derjenige, der meint, er könne dem alten Föderalismus sein Herzstück herausreißen - die Kulturhoheit.
Nein, die Schulreform ist tot - es lebe die Schulreform. Nur, dass sie nicht mehr von oben betrieben wird, als flächendeckende Zwangsbeglückung. Die Schulreform "post Hamburg-Plebiszit" ist die lokale. Wo kopfschüttelnde Eltern plötzlich zu engagierten Helfern werden, wo Bürgermeister und Unternehmer gemeinsam für eine Schule von morgen arbeiten.
Das Schöne an dieser Regionalschule ist übrigens, dass sie ungeahnte Koalitionen hat. Da streiten grüne Rebbelnbürgermeister einträchtig mit CSU-Stadräten, da kämpft die "Montagsstiftung" mit ihrem regionalen Schulentwicklungsprogramm Seit an Seit mit Bundesbildungsminister Annette Schavan (CDU), die ein Projekt "Lernen vor Ort" mit Millionenbeträgen stützt.
Die Wahrheit der Odenwaldschule
Die Bedürfnisbefriedigungsanstalt
Oben im Wald stehen Menschen. Sie sind nah beieinander. Immer wieder tritt ein Gruppe vor, Arm in Arm. Einer wirft einen Zettel ins Feuer. Um seine Sorgen loszuwerden. Es lodert auf, kurz fällt der Schein auf ein Skulpturen- Tryptichon. Ein Mann umarmt eine Frau. „Entschuldige, ich habe nicht hingeschaut,“ sagt er in Tränen.
Oben im Wald endet mit minutenlangen Umarmungen der Abend der Wahrheit an der Odenwaldschule. Über drei Stunden lang sitzen rund 200 Menschen in der alten Turnhalle – und geben sich gegenseitig Zeugnis von Vorgängen, die man nicht für möglich gehalten hätte an einer Schule, die vorgab, ihre Kinder in den Mittelpunkt zu stellen.
Nicht verstehen, endlich zuhören
„Ihr wollt immer verstehen! Hört auf, verstehen zu wollen. Hört euch endlich mal an, was passiert ist.“ Der Mann schreit. Obwohl er gleichzeitig glasklar ist und vollkommen rational. Er brüllt seinen Schmerz hinaus, einen Schmerz, den ihm 20 Jahre lang niemand abgenommen hat.
„Wisst ihr, wie es sich anfühlt, wenn man als 13-jähriger nachts aufwacht. Aufwacht, weil Gerold einem den Schwanz lutscht. Aber nicht so, wie es Erwachsene tun, um Lust zu empfinden. Sondern wie ein Berserker lutscht. So dass man Angst hat, er beißt einem den Schwanz ab. So bin ich nachts um drei geweckt worden. Und ich war 13.“
Die Menschen, die das anhören, winden sich. Sie möchten vor der Hitze in der Turnhalle davon laufen. Sie möchten fliehen vor der Schilderung der Wahrheit. Es sträubt sich alles in ihnen, zu glauben und anzunehmen, dass dies alles nicht etwa in einer schmutzigen Absteige an irgendeinem Großstadtbahnhof geschah, sondern an der Odenwaldschule Oberhambach. Dem Vorzeigeinternat, der bevorzugten Reformschule der liberalen Nachkriegselite Deutschlands. Einer Schule, deren Motto war: „Werde, der du bist.“
„Ich war das aber nicht“, sagt einer der Betroffenen oben auf der Bühne, „es kam nicht von mir. Ich habe es hier gelernt, dass es normal ist, zu einem Erwachsenen ins Bett zu steigen. Ich war neun Jahre alt, als ich hier ankam.“
Drüben im Bürohaus der Odenwaldschule hat noch vor einer Stunde ein Altschüler gefragt, ob die Aufklärung nicht ein bisschen einseitig verlaufe. „Kann man jedem alles glauben? Ich frage ja nur: Wo gibt es einen zweiten Zeugen?“
Zweite, dritte und mehr Zeugen
In der Turnhalle, in der Bruthitze gibt es zweite und dritte und vierte Zeugen. Einer berichtet, wie ihn Wolfgang Held gestreichelt hat. Einer macht deutlich, dass ihn Gerold Becker vergewaltigt hat, und dass er ihn inzwischen hasst. Einer berichtet, dass ihn Jürgen Kahle onaniert hat. „Ich habe es geschehen lassen, aber ich bin am nächsten Tag zu ihm und habe gesagt, dass ich das nicht möchte.“ In einem beinahe literarischen Text, den der Moderator des Abends, Johannes von Dohnanyi, vorliest, wird die quälende tägliche Prozedur des Weckens berichtet. Pfarrer Gerold Becker rieb den Halbwüchsigen den Penis, um sie zur Schule zu rufen. "Jeden Tag, jeden verdammten Tag. Nur am Tag des Herrn ließ er uns ausschlafen."
"Jetzt Nein sagen?"
Wie die Jungen sich dreimal überlegen, ob sie duschen, weil der Schulleiter sofort in die Dusche drängt. „Jetzt nein sagen?“, heißt es immer wieder in einem verlesenen Text. Um ihnen zu zeigen, wie man sich das Glied wäscht. „Jetzt Nein sagen?“ Und wie sich Becker an ihnen entlädt. „Wozu jetzt noch Nein zu sagen!“
Man fragt sich, je länger der Abend dauert: Was war die Odenwaldschule unter Gerold Becker eigentlich: Eine Schule, in der es zu Missbräuchen kam? Oder eine Bedürfnisbefriedigungsanstalt, die nebenher auch ein wenig Schule machte? Und was sagen die Lehrer dazu?
Es sind viele Pädagogen da. Auch solche, die unter Gerold Becker bereits an der Schule waren. Allesamt beteuern sie, dass sie nicht gemerkt hätten, was geschah. Und weil niemand das glauben kann, werden die Fragen jetzt schärfer, der Abend der Wahrheit verwandelt sich für Momente in ein Verhörzimmer. „Du hattest doch ein Verhältnis zu einer 18-jährigen Schülerin“, sagt ein ehemaliger Schüler zu einem Lehrer. „Ist es da ein Wunder, dass du nicht aufklären wolltest. Das war doch das Bonbon für Euch Lehrer. Ihr hatte Eure Freiheiten, dafür ließt ihr Gerold in Ruhe.“
"Ja, ich hatte ein Verhältnis zu einer Schülerin"
Der angesprochene Lehrer steht plötzlich im Zentrum. Wut steigt in den Leuten auf, der Mann zittert. Nun ist alle Aufmerksamkeit bei ihm, es ist ein Mitläufer identifiziert. Doch er läuft nicht weg. Er lässt sich ein Mikrofon geben. Er antwortet sehr knapp, sehr präzise. Er sagt, erstens und zweitens. Er sagt. "Ja, ich hatte ein Verhältnis." Man hört, wie er anfügt: Was habe das eine mit dem anderen zu tun?
„Du willst deinen Arsch retten?“ brüllt jetzt einer, der keine drei Schritte hinter ihm steht. Vorne kreischen ein paar Frauen vor Wut auf den Mann, der gerade zugegeben hat vor 200 Menschen, dass er mit einer erwachsenen Schülerin geschlafen hat. Die Menge entlädt ihre Wut auf diesen Mann, es gibt Geschrei. Angst macht sich breit – da sagt oben auf dem Podium Salman Ansari beinahe sanft:
„Das geht nicht! Hört auf! Wir wollen hier die Wahrheit hören. Und wenn einer sie sagt, dann, bitte, hört ihm zu.“
Salman Ansari war selbst Lehrer auf der Odenwaldschule. Seit 1999 zum ersten Mal herauskam, das es Missbrauch gab, richtete er bohrende Fragen an seine Kollegen. Sie haben ihn geschmäht, als Judas und Verräter bezeichnet. Sie haben ihn ausgestoßen. Jetzt schützt Ansari jene, die zu sprechen bereit sind.
Auf dem Podium sitzt ein Psychoanalytiker. „Es ist die Urangst des Menschen ausgeschlossen zu werden. Einsam zu bleiben.“ Das hindere die Lehrer am Sprechen.
Kurz danach wird ein zweiter Lehrer enttarnt als einer, der ein Verhältnis zu einer Schülerin hatte. Er war bekannt und gefürchtet für seine beißenden Witze. Nun verhaspelt er sich. Dann sagt er zu einer Sentenz, die damals so vielen die Augen geöffnet hatte: „Das war doch ein Witz. Ich hatte doch keine Ahnung, dass die Wirklichkeit meinen Witz noch übertraf! Wenn ich das geahnt hätte, dann ich ich den Witz doch nie gemacht!“
Es geht blitzschnell, man durchschaut nicht mehr jede Volte, jedes selbstverräterische Detail. Da sagt Johannes von Dohnanyi zu dem Mann: „Du hättest also geschwiegen?“ Der Lehrer hat auch nicht wirklich verstanden, er piepst:
"So lasst mir doch mein Unterbewusstes. Und wenn ich gewusst hätte, was geschah, dann hätte ich es nicht gesagt“, offenbart er. „Ich hätte Angst gehabt, dass die mich anzeigen.“
Es ist die einzige smoking gun, die die Wahrheitskommission heute hinaustragen wird. Ein dürres Sätzchen, das dennoch den ganzen Verrat an den Schülern zeigt: Ein Lehrer befürchtet Strafverfolgung, wenn er offenbart, dass Kriminelles mit halbwüchsigen Schülern geschieht. Nicht die Schüler schützt er, sondern sich und die Täter.
„Wir haben uns nur um uns selbst gekümmert“, sagte Salman Ansari gleich zu Beginn des Wahrheitsabends. „Die Kinder waren zweitrangig.“ Jetzt, drei Stunden später verstehen viele, was er gemeint hat. „Wir stritten uns über unsere Ideologien von Erziehung. Wir waren fraktioniert in zwei Gruppen, wir waren die ganze Zeit mit uns selbst beschäftigt. Und Gerold Becker hat es genossen, uns zu teilen in Kinderfreunde und Kinderfeinde. Wie kann das sein an einer Schule, die versprochen hat, sich um Kinder zu kümmern?“
Aber die Lehrer, die nun reihum auf die Anklagebank gesetzt werden, sie verstehen das nicht. Oder wollen es nicht verstehen, was das Ethos eines Lehrers sein könnte. Sie sagen in endlosen Schleifen, niemand hat mich vorbereitet auf meine Aufgabe, niemand hat mir gesagt, was ich tun soll. Ich schwöre, ich habe nichts bemerkt. Sie sagen Ich, ich, ich. Ich kann nichts dafür.
„Ich höre immer nur Gerold Becker“
„Ich höre immer nur Gerold Becker“, sagt ein Ex-Schüler, „aber was ist denn mit Euch Lehrern? Das kann ich nicht glauben. 30 Prozent von Euch hatten doch sexuelle Verhältnisse mit Schülern.“ Und einer der Betroffenen brüllt so laut, dass es einen schaudert, „wir laut sollen wir denn noch schreien, dass ihr uns zuhört!“
Da sagt hinten einer der ehemaligen Lehrer, leise. „Es tut mir leid, dass ich nichts gesehen habe. Bitte, entschuldige."
Oben im Wald sieht man, wenn das Feuer auflodert, die Skulptur. Drei Metter ist sie hoch. Eine große Hand aus Metall, der ein Finger fehlt. Ein Baum, der keine Krone mehr hat. Ein Pflänzchen, dass wieder wachsen soll.