Schulen und Schulpflicht

Wichtigstes Merkmal der deutsche Schule ist ihre Gliederung in verschiedene Schulformen. Nach der Grundschule schickt man hierzulande Kinder in mindestens drei getrennte Schularten, in der Regel in Hauptschule, Realschule und Gymnasium, manchmal kommen auch in Gesamtschulen oder so genannte "Schulen mit mehreren Bildungsgängen. Mit dieser Trennung 10-jähriger Kinder nach Schulformen steht Deutschland weltweit praktisch alleine da. Nur in Österreich wird ähnlich früh und ähnlich eindeutig getrennt.

Die Geschichte des gegliederten Schulwesens ist zunächst die einer Zweigliederung. Zu Beginn des organisierten Lernens gab es Gelehrtenschulen auf der einen und Volksschulen auf der anderen Seite. Die ersten höheren Schulen sind Latein- und Klosterschulen, die nur eine sehr kleine Schar ausgewählter Kinder aufnehmen. Rund drei Viertel der Kinder werden in Volksschulen entsandt, die ihren Insassen praktisch keine Aufstiegschancen gewähren. In diesen Schulen fürs gemeine Volk sollten die Kinder, wie Friedrich der Große es ausdrückte, nur "ein bissgen lesen und schreiben" lernen. 

Generallandschulregelment

Im so genannten Generalschulreglement wird 1763 die allgemeine Schulpflicht erstmals angesprochen, endgültig eingeführt wird sie 30 Jahre später durch das Preußische Landrecht. Es sorgt dafür, dass man Kinder nicht mehr ausschließlich als billige Arbeitskräfte auf dem Feld missbrauchen darf. Als Schulaufsicht werden die Pfarrer eingesetzt, um dafür Sorge zu tragen, dass die Kinder lernen. Mit gleichen Bildungschancen oder Aufstiegschancen hat das nichts zu tun. 

Zwischen den höheren und niederen Schulzweig schiebt sich im Laufe der Zeit die Mittel- oder Realschule. Ihr Begründer sind das städtische Bürgertum, Händler und die Betreiber der Manufakturen. Sie wollen, dass Kinder über die Minimalbildung der Land- und Volksschulen hinauskommen -- ihre eigenen und jene, die sie zum Betrieb früher industrieller Anlagen benötigen. So entsteht ein differenziertes Schulsystem, das nur bestimmten bürgerlichen Schichten relevante Bildungsinhalte vermittelt. Die gegliederte Schule ist eine Schule der ständischen Gesellschaft, in der über Aufstieg nach Geburt entschieden wird. 

Deutschland ist von dieser Dreigliederung seiner Schule nie mehr abgekommen. Sie verfestigt sich in den Institutionen wie im Bewusstsein der Menschen. Gerechtfertigt wird die gegliederte Schule durch die so genannte Begabungslehre. Sie besagt, dass sich die Menschen in drei mehr oder weniger feststehende Begabungstypen teilten, die sehr früh erkennbar seien. Es gebe praktische, organisatorisch-kaufmännische und theoretische Begabungstypen, für die man jeweils eigene Schulen zur Verfügung stellen müsse. 

Mißgeburt Mittelschule

Einen ersten Versuch, allen Kindern grundsätzlich die gleiche Schulbildung zuteil werden zu lassen, unternimmt Wilhelm von Humboldt. Der Leiter der Abteilung Kultus im damaligen preußischen Innenministerium verfasst Anfang des 19. Jahrhunderts zwei Denkschriften, den Königsberger und den Litauischen Schulplan, in denen er die Mittelschule als Mißgeburt verurteilt - und nach einer Schule verlangt, in der "jeder, auch der Aermste, eine vollständige Menschenbildung erhielte." 

Wilhelm von Humboldt entwirft daher ein dreistufiges (nicht dreigliedriges, cif!) Schulsystem mit Elementarschule, Gymnasium und Universität. Das humanistische Gymnasium ist darin die einzige weiterführende Schulform. Sie soll allen Kindern "klassische" Bildung vermitteln. Eine frühe Aufteilung sei nicht sinnvoll, da "die Bestimmung eines Kindes oft sehr lange unentschieden bleibt". Allerdings hat Humboldt diesen Plan nicht besonders energisch verfolgt. Er legt sein Amt nach nur einem Jahr nieder – und geht in die Geschichte als Erfinder eines humanistischen Gymnasiums ein, das nur bestimmten Schichten offen steht.

Fröbel verjagt

Weitere Versuche, das gegliederte Schulwesen zu überwinden, waren in Deutschland erfolglos - oder haben gar zu heftigen politischen Auseinandersetzungen geführt. Zunächst wird die Einführung einer demokratischen, nicht gegliederten Schule in der Revolution von 1848 verhandelt. Die Ideen Friedrich Wilhelm Fröbel, der einer der ersten Reformpädagogen war, inspirieren zwar die bürgerlichen Verhandler um eine demokratische Verfassung. Aber die preußischen Truppen beenden nicht nur die Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung. Deutschland wird keine einige Republik – und bekommt 1848 auch keine demokratische Schule. 

"Einheitsschule ist Gleichmacherei"

In den 1860er Jahren beginnt der Kampf um eine Integration der zersplitterten Schulformen neu. Es geht dabei aber nur um die höheren Schulen. Die Auseinandersetzung findet zwischen Realgymnasien und Oberrealschulen auf der einen und den humanistischen Gymnasien auf der anderen Seite statt. Auch die beiden kleineren Oberschultypen wollen sich das Recht erstreiten, wie das Gymnasium die Hochschulreife zu vergeben. Es geht um etwa drei Prozent eines Jahrgangs. Damals wird erstmals der Terminus der "Einheitsschule" verwendet – und zwar von den Gegnern einer erweiterten Oberschule. Er entwickelt sich zu einem Kampfbegriff, der bis heute Verwendung findet. "Einheitsschule bedeutet Gleichmacherei und ist die falsche Antwort", sagt etwa der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) im Jahr 2010. 

Nach dem 1. Weltkrieg gehen die Schulkämpfe weiter. Diesmal geht es um die Einführung einer gemeinsamen Grundschule für alle Kinder. Vorher gab es in Deutschland eigene gymnasiale Vorklassen oder private Vorbereitungskurse, das bedeutet die Kinder der oberen Schichten begegneten nie denen des gemeinen Volks.

Schule der Novemberverbrecher

Doch die Einführung einer Grundschule für alle gelingt nur unter schlimmen innenpolitischen Verwerfungen. Statt einer sechsjährigen Grundschule kommt nur eine vierjährige zustande. Die Gegner nennen die Grundschule eine "Schule der Novemberverbrecher", das heißt sie benutzen die Kampfbegriffe einer autoritären, gewalttätigen Rechten zu Beginn der Weimarer Republik, um diese frühe Schule für alle zu diskreditieren. 

Nach 1945 wird in der entstehenden DDR die Gesamtschule unter dem Namen Einheitsschule eingeführt. Auch die US-amerikanischen Truppen unter General Lucius D. Clay versuchen, das Schulwesen in den Westzonen zu demokratisieren. Sie haben eine gemeinsame Gesamtschule bis zur achten Klasse ganz oben auf ihrem Schulprogramm - scheitern aber an der Hartnäckigkeit der bayerischen Schulbehörden, vor allem Alois Hundhammer (CSU). Clay ist geradezu verzweifelt darüber. Er schreibt an die Regierung in Washington, er müsste um eine comprehensive school, also eine Gesamtschule, einzuführen militärische Gewalt anwenden - das aber wolle er nicht. 

Die Pseudo-Gesamtschule

In den 1970er Jahren wird erneut ein Anlauf genommen, das gegliederte Schulwesen zu überwinden. Es geht um die Einführung so genannter Gesamtschulen. Die Kultusminister verbieten aber 1983 nach einem erneuten langen Schulkampf eine echte Gesamtschule, die alle Schüler gemeinsam in einer Klassen lernen lässt. Die genauen Ursachen für die Ablehnung sind schwer zu erklären. Wissenschaftlich ließ sich bereits damals die frühe Trennung der Kinder mit zehn Jahren auf verschiedene Schulformen nicht begründen. 

Dennoch macht erneut das Bundesland Bayern die bundesweite Anerkennung von Abschlüssen der Gesamtschule davon abhängig, dass Schüler ab der siebten Klasse in den Hauptfächern nach Leistung getrennt werden müssen. Das bedeutet, dass selbst integrative Gesamtschulen die Schüler nach Leistung trennen und in verschiedenen Klassen unterrichten. Die kooperative Gesamtschule ist gar eine Schule, die ihre Kinder genau wie die gegliederte in drei komplett verschiedenen Schulen unterrichtet. Sie begegnen sich lediglich auf dem Pausenhof, da unter dem Dach der kooperativen Gesamtschule drei verschiedene Schulformen existieren. 

Die Aufteilung der Schüler erfolgt in der gegliederten Schule formell aufgrund der Leistung. Das ist jedenfalls die Idee. Nur jene Schüler in Bayern etwa, die einen Notenschnitt von 2,3 haben, dürfen aufs Gymnasium. In Sachsen liegt dieser Schnitt bei 2,0. In anderen Bundesländern entscheidet nicht allein die Leistung, sondern auch der Wille der Eltern.

Die Pisastudien haben genau wie Folgeuntersuchungen gezeigt, dass die Auswahl in der Praxis weniger nach Leistung als vielmehr nach sozialen Kriterien erfolgt. Erstens haben die Schüler akademischer Eltern Vorteile beim Wissenserwerb. Zweitens zeigen die Studien, dass Akademikerkinder auch unabhängig von ihrer Leistung bei der Gymnasialempfehlung stark bevorzugt werden. Akademikerkinder haben in Deutschland eine zwei- bis siebenmal so große Chance auf den Gymnasialbesuch wie Arbeiterkinder - bei gleicher Leistung.